Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele

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Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele


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und mein leichenblasses Gesicht sieht, beruhigt er sich etwas und geht kopfschüttelnd weg.

      Ich werfe Paul einen vorsichtigen Blick zu. Er grinst noch immer. Erst als er merkt, dass ich ihn beobachte, neigt er leicht seinen Kopf. »Tut mir leid, der Wagen ist ins Schleudern geraten«, sagt er, aber in seinem Tonfall liegt nicht der Hauch eines Bedauerns.

      Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend. Zuerst liefern wir Anne ab, die grußlos das Auto verlässt und die Wagentür hinter sich zudonnert, dann fahren wir zu mir. Zu Hause nehme ich ein langes heißes Bad und brauche zusätzlich Pauls sanfte Rückenmassage, bis ich mich von dem Schock erhole.

      »Ich dachte, es sei unser Ende.«

      »Schatz, verzeih mir. Es lief ein klein wenig aus dem Ruder. Ich wollte doch nur deine vorlaute Schwester zum Schweigen bringen, und das ist mir, glaube ich, auch gelungen. Dass sich unser Verhältnis dadurch verbessert hat, wage ich jedoch zu bezweifeln, und das bedaure ich sehr.«

      Sanft streichen seine Hände bei diesen Worten über meinen Rücken, und ich beschließe, mich in seinem Namen bei Anne zu entschuldigen.

      Woher aber, überlege ich fast schon im Schlaf, wusste er eigentlich, wo Anne wohnt? Soweit ich es mitbekommen habe, hat er weder sie noch mich irgendwann nach ihrer Adresse gefragt.

      ANNE

      Ein unfreundlicher Februar ist ins Land gezogen. Mit dem Schnee hat sich all die winterliche Pracht aufgelöst, aber immer noch ist es schweinekalt und eisig. Aus diesem Grund machen wir Innenaufnahmen.

      Die Models zicken, aber das tun sie immer.

      »Anne«, sagte mir neulich ein Kollege, »das kommt dir nur so vor, weil du die Oberzicke bist.«

      Touché, dachte ich, das hat gesessen, aber ganz unrecht hat er nicht. Seit jenem Überraschungsausflug mit Paul, den meine Schwester inszenierte, bin ich ein wenig neben der Spur.

      Versöhnen?

      Wie soll das funktionieren?

      Wie soll ich mit einem klarkommen, mit dem ich wochenlang heimlich eine Affäre gehabt und meine Schwester betrogen habe?

      Mit einem, der mir, gleichsam als Abschiedsgeschenk, Gewalt angetan hat?

      Wie mit einem gut sein, der uns auf dem »Versöhnungstrip« um ein Haar in den Tod gefahren hätte?

      Der Mann, so viel ist mir bewusst, ist gefährlich.

      Tatsache aber ist, dass meine Schwester vollkommen in ihn vernarrt ist. Und Paul scheint sie auf seine Art auch zu lieben, so viel meine ich erkannt zu haben. Es macht die Sache nicht einfacher. Wie lange kann eine Verbindung von zwei offensichtlich labilen Menschen gut gehen?

      Ich kenne einige Abgründe, die in Pauls Psyche verborgen sind, doch ich kann meine Schwester nicht warnen. Klartext zu reden, das bringe ich nicht über mich, denn der Preis, nämlich meine Zwillingsschwester für immer zu verlieren, ist einfach zu hoch.

      Aber ich werde wachsam sein. Niemand kann mir verbieten, die Augen offen zu halten.

      Während sich die Models in Szene setzen, spüre ich die Blicke eines Beleuchters in meinem Nacken. Ich gebe vor, es nicht zu bemerken. Die Hand, die sich nach Abschluss der Session auf meine Schulter legt, lässt mich dennoch zusammenzucken und einen Schritt zurücktreten.

      »Was?«, fauche ich.

      Der Kerl steht vor mir und sieht mich verlegen an.

      »Ich wollte …«, hebt er an, aber da habe ich ihn schon unterbrochen.

      »Noch ein körperlicher Übergriff«, zische ich, »und ich breche dir deine Finger einzeln.«

      Mit offenem Mund sucht er das Weite, und jetzt bin ich es, die vor Verlegenheit den Mund nicht mehr zubekommt.

      War das gerade eben ich?

      Schlagartig wird mir bewusst, wie sehr mir mein Erlebnis mit Paul, sein Abschiedsgeschenk im Stiegenhaus, zugesetzt hat. Und noch etwas wird mir klar: Mit Männern habe ich erst mal nichts im Sinn.

      Vielleicht verreise ich eine Weile, natürlich allein, und lasse meine Seele baumeln. Viel zu selten nehme ich mir Zeit für mich selbst, und jetzt, wo ich aus dem Gleichgewicht geraten bin, sehne ich mich geradezu nach wohltuendem Leerlauf.

      Bilder von einsamen tropischen Inseln, umgeben von glasklarem Wasser, das an elfenbeinfarbene Strände grenzt, hinter denen dichter Dschungel mit gezähmten Tieren, süßen Früchten und bunten Blumen auf mich wartet, schweben mir vor.

      Nein, mein Leben gestaltet sich derzeit nicht im Geringsten wie in einem Hochglanzprospekt. Es ist vielmehr geprägt von Ecken, Kanten und Einrissen.

      Tief durchatmen, denke ich, und ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Das ist meine erfolgreiche Wunderwaffe, die sich erneut bewähren muss.

      Auch morgen, beim Familienessen mit Mutter und Vater, werde ich sie wohl einsetzen müssen. Lili hat kurzfristig abgesagt, also liegt es an mir, die Unterhaltung zu bestreiten, und da ich nicht sicher bin, ob meine Schwester unseren Eltern schon von ihrem neuen Freund erzählt hat, werde ich diese Klippe großräumig umschiffen.

      Lächelnd, versteht sich.

      Nicht über Paul zu sprechen heißt jedoch nicht, ihn aus den Augen zu lassen.

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