Du darfst nicht sterben. Andrea Nagele

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Du darfst nicht sterben - Andrea Nagele


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      »Wer sind Sie?« Der Tonfall meiner Schwester klingt herausfordernd.

      Die Antwort erfolgt wohltönend: »Mein Name ist Jonas. Ich bin der Physiotherapeut. Ihre Schwester, Lili Parker, ist meine Patientin.«

      Heiterkeit erfasst mich. Jonas und der Wal? Bin ich die Prophetin und er der große Fisch mit den freundlichen Augen? Sind wir einander in den Tiefen des Ozeans begegnet?

      »Wie jetzt? Jonas vorne oder Jonas hinten?«

      Wer hat das gefragt?

      Wenn ich nur sehen könnte. Doch sosehr ich mich anstrenge, meine Lider kleben wie verschweißt an meinen Augen. Ich kann mich nicht bewegen, nur ahnen, wo Kopf, Hände und Füße sich befinden. Doch spüren kann ich mit einem Mal, wie die Kleine sich an mich schmiegt.

      »Wach auf! Wach auf!«

      Beruhigende Worte schwirren durch meinen Kopf, doch ich bin unfähig, ihnen eine Stimme zu geben.

      »Hanna, alles wird gut. Wir machen hier Übungen, damit sich unsere Patientin schnell erholt und bald wieder wach ist, um mit dir spielen zu können.«

      So gern möchte ich ihr bestätigen, dass es wahr ist, aber es geht nicht.

      Ich will nicht sterben.

      Ich will wieder gesund werden.

      »Der Arzt sagte, meine Schwester sei ins Koma gefallen. Was heißt das genau, Jonas? Und wann wacht sie endlich daraus auf?«

      »Der vegetative Zustand, in dem Lili sich befindet, ist vergleichbar mit einem langen Schlaf voll von Träumen. Ob sie etwas hören, sehen oder empfinden kann, wissen wir nicht. Erst mal warten wir auf die Ergebnisse von EEG, Hörtest und so weiter. Danach sehen wir klarer. Die Ärzte werden Ihnen alles genau erklären. Jedenfalls hat Ihre Schwester durch den Messerstich in den Hals sehr viel Blut verloren. Der Schnitt verfehlte nur knapp die Schlagader. Erschwerend kommt die durch den Sturz verursachte massive Blutung im Kopf hinzu, die für ihren jetzigen Zustand hauptverantwortlich ist. Es stand eine Zeit lang sehr schlecht um sie, aber das wissen Sie ja.«

      Die Stimme des Therapeuten klingt monoton, ohne Höhen und Tiefen, und wirkt entspannend auf mich.

      »Dass die Patientin wiederbelebt werden musste, hat die Situation nicht eben erleichtert. Einerseits braucht sie Ruhe, um Kraft zu finden, andererseits ist es notwendig, ihre Körperfunktionen zu aktivieren. Das ist mein Part. Ich habe dafür zu sorgen, dass ihre Muskeln nicht erschlaffen.«

      Ich bin wach.

      Mit aller Kraft versuche ich, meinen Mund zu öffnen, zu sprechen, zu blinzeln. Es will mir nicht gelingen.

      Ein Stöhnen schwebt an mir vorbei zum Fenster hinaus.

      »Jonas«, die Stimme an meiner Seite schwillt an, »um Gottes willen, sehen Sie doch. Meine Schwester ist leichenblass, ihre Lippen haben sich violett verfärbt. Helfen Sie ihr! Sie stirbt!«

      Hannas Schluchzen zerreißt etwas in mir. »Ratsch« machen die scharf geschliffenen Klingen der Schere, und feines Seidenpapier flattert in Streifen zerteilt zu Boden.

      Schrille Töne vermischen sich mit lärmenden Stimmen.

      »Bringen Sie das Kind hinaus. Sofort!«

      Jetzt ist nur noch zähflüssige Tintenschwärze um mich herum. Seltsam gelassen treibe ich auf das weit geöffnete Maul des Wals zu.

      Mit einem Mal steht meine Zwillingsschwester vor mir. Ihre Augen funkeln entschlossen. Mit einer einzigen kräftigen Bewegung zieht sie mich hoch und versetzt mir eine schallende Ohrfeige.

      »Wach auf!«, höre ich sie schreien. »Das kannst du uns nicht antun.« Dann schlägt sie wieder in mein Gesicht.

      »Sind Sie verrückt? Beruhigen Sie sich«, sagt eine fremde, strenge Stimme. »So können Sie ihr doch nicht helfen.«

      In meinem Kopf dreht sich ein Karussell, schneller, immer schneller. Dann ist da ein brennender Stich in meiner Armbeuge. Ohne es verhindern zu können, sacke ich wieder dem Meeresboden entgegen.

      Ein Blitz zuckt hinter meinen geschlossenen Augenlidern. Elektrizität glüht in meinem Körper, Strom jagt durch meine Adern. Etwas Metallenes saugt sich an meine Haut, die kreisrunden Flächen kühlen mein Fleisch.

      Ich werde über einer Feuerstelle gegrillt und schnelle nach oben. Meine Stirn kracht gegen die Zimmerdecke, ein Schrei löst meine verklebten Lippen. Mit Schwung pralle ich von der Wand ab und falle. Unten erwarten mich spitze Nadeln. Wimmernd sinke ich auf das Leintuch, aus dem riesige Zimmermannsnägel ragen. Je länger ich liege, desto weniger nehme ich mich wahr.

      Irgendwann erhebe ich mich von meinem Lager und schwebe durch den Raum. Schwerelosigkeit überkommt mich. Ich fühle mich benommen, als hätte jemand eine Glasglocke über meinen Kopf gestülpt.

      Eine kaum zu hörende, von Zweifeln erfüllte Stimme flüstert: »Du darfst nicht sterben.«

      Warum nur torkeln die Worte wie betrunken über die Zeilen im Schönschreibheft?

      Als ich erkenne, dass niemand anderer als ich selbst es bin, die da spricht, biete ich all meine Überzeugungskraft auf.

      »Du wirst nicht sterben.«

      Die Worte üben eine suggestive Kraft auf mich aus, sie gleichen einer festen Order, beruhigend in ihrer Gewissheit. Sie geben mir Sicherheit, die ich jetzt dringender als alles andere brauche.

      Die durch das Fenster hereinstrahlende Sonne bildet konzentrische Kreise in Spektralfarben an der Zimmerdecke. Alles sehe ich klar und frage mich doch, was Einbildung ist und was Realität. Eben vermengt sich der Geruch nach Jod, Algen und Salz mit der sterilen Krankenhausluft, Sekunden später schaukle ich in einer Jolle über das Mittelmeer und genieße den Tag. Unbeschwert stoße ich mich vom Bootsrand ab und gleite ins kühl prickelnde Blau. Lange Zeit wiege ich mich in der Strömung. Eine sanfte Brise streichelt mein erhitztes Gesicht.

      Später vertäue ich den Kahn an einem muschelüberwucherten Steg und lache dem Sommer entgegen. Übermütig grabe ich meine Zehennägel in den heißen Sand. Weit draußen auf dem Meer tanzen Bojen über den Horizont. Wellen plätschern ans Ufer, weißer Schaum kräuselt sich auf der Oberfläche.

      Dann steht Paul neben mir, sein Arm packt meine Schultern. Essenzen von Kreuzkümmel und Moos mischen sich mit salziger Seeluft. Durch halb geschlossene Wimpern sehe ich seine Augen. Doch sosehr ich mich auch bemühe, es will mir nicht gelingen, das Braun zu durchdringen. Wie eine Wand verhindert es den Blick in Pauls Innerstes.

      Dumpfes Pochen in meinen Schläfen, ein Specht hämmert gegen die Rinde eines Baumstamms im nahen undurchlässig wirkenden Wald. Ich irre zwischen Sträuchern und Hecken umher, zerkratze mir Arme und Beine an den Dornen wild wuchernder Himbeeren und Brombeeren. Verzweifelt suche ich den Weg aus dem Dickicht, stolpere über Wurzeln, verfange mich in Farnen, die wie Arme nach meinem Körper greifen. Unter mir kriechen Schlangen durch das Gehölz.

      Ich habe den Kopf verloren. Nein. Mein Kopf hat meinen Körper verloren. Unmittelbar vor mir öffnet sich ein pechschwarzes Loch. Tiefste Dunkelheit. Meine Finger krallen sich in die lehmige Erde, versuchen, den Sturz in die Tiefe zu vermeiden, aufzuhalten, ihn abzufangen. Je heftiger ich mich darum bemühe, umso stärker weicht die Kraft aus meinen Händen. Die Finger erschlaffen, bis sie schließlich loslassen müssen.

      Ich falle.

      Schlamm gelangt in meinen Mund, rutscht tiefer hinunter, erreicht Lunge und Magen. Ich huste, spucke.

      Mit einem letzten Schrei öffne ich die Augen.

      Und starre auf meinen Leichnam.

      6

      Anne lebt.

      Eigentlich wollte Paul abwarten, sich verstecken, bis der erste Fahndungsdruck nachgelassen hätte, doch jetzt muss er handeln. Sofort. Denn wenn Anne überlebt hat, wird sie nach ihrem Kind verlangen. Immer wieder spielt er unterschiedliche Szenarien durch. Eine Gewissheit sticht klar hervor: Das Kind ist der


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