Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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durch das Kollektivum erfolgt. Die Gesetze ihrer Rezeption sind die lehrreichsten.

      Bauten begleiten die Menschheit seit ihrer Urgeschichte. Viele Kunstformen sind entstanden und sind vergangen. Die Tragödie entsteht mit den Griechen, um mit ihnen zu verlöschen und nach Jahrhunderten aufzuleben. Das Epos, dessen Ursprung in der Jugend der Völker liegt, erlischt in Europa mit dem Ausgang der Renaissance. Die Tafelmalerei ist eine Schöpfung des Mittelalters und nichts gewährleistet ihr eine ununterbrochene Dauer. Das Bedürfnis des Menschen nach Unterkunft aber ist beständig. Die Baukunst hat niemals brach gelegen. Ihre Geschichte ist länger als die jeder andern Kunst und ihre Wirkung sich zu vergegenwärtigen von Bedeutung für jeden Versuch, das Verhältnis der Massen zum Kunstwerk nach seiner geschichtlichen Funktion zu erkennen.

      Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und durch Wahrnehmung. Oder besser gesagt: taktil und optisch. Es gibt von solcher Rezeption keinen Begriff, wenn man sie sich nach Art der gesammelten vorstellt, wie sie z. B. Reisenden vor berühmten Bauten geläufig ist. Es besteht nämlich auf der taktilen Seite keinerlei Gegenstück zu dem, was auf der optischen die Kontemplation ist. Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption. Auch sie findet ursprünglich viel weniger in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigen Bemerken statt. Diese, an der Architektur gebildete, Rezeption hat aber unter gewissen Umständen kanonischen Wert. Denn: Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich, nach Anleitung der taktilen Rezeption durch Gewöhnung bewältigt.

      Gewöhnen kann sich aber auch der Zerstreute. Mehr: gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst, daß sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist. Durch die Zerstreuung, wie die Kunst sie zu bieten hat, wird unter der Hand kontrolliert, wie weit neue Aufgaben der Apperzeption lösbar geworden sind. Da im übrigen für den Einzelnen die Versuchung besteht, sich solchen Aufgaben zu entziehen, so wird die Kunst deren schwerste und wichtigste nur da angreifen, wo sie Massen mobilisieren kann. Sie tut es gegenwärtig im Film. Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tiefgreifenden Veränderungen der Wahrnehmung ist, hat in den Kinos ihren zentralen Platz. Und hier, wo das Kollektivum seine Zerstreuung sucht, fehlt keineswegs die taktile Dominante, die die Umgruppierung der Apperzeption regiert. Ursprünglicher ist sie in der Architektur zuhause. Aber nichts verrät deutlicher die gewaltigen Spannungen unserer Zeit als daß diese taktile Dominante in der Optik selber sich geltend macht. Und das eben geschieht im Film durch die Chockwirkung seiner Bilderfolge. So erweist sich auch von dieser Seite der Film als der derzeitig wichtigste Gegenstand jener Lehre von der Wahrnehmung, die bei den Griechen Ästhetik hieß.

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      Die zunehmende Proletarisierung der heutigen Menschen und die zunehmende Formierung von Massen sind zwei Seiten eines und desselben Geschehens. Der Faschismus versucht, die neuentstandnen proletarischen Massen zu organisieren, ohne die Produktions- und Eigentumsordnung, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. Hier ist, besonders mit Rücksicht auf die Wochenschau, deren propagandistische Bedeutung gar nicht zu überschätzen ist, anzumerken, daß die massenweise Reproduktion der Reproduktion von Massen besonders entgegenkommt. In den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. Dieser Vorgang, dessen Tragweite keiner Betonung bedarf, hängt aufs engste mit der Entwicklung der Reproduktions- beziehungsweise Aufnahmetechnik zusammen. Massenbewegungen stellen sich im allgemeinen der Apparatur deutlicher dar als dem Blick. Kaders von Hunderttausenden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen. Und wenn diese Perspektive dem menschlichen Auge auch ebensowohl zugänglich ist wie der Apparatur, so ist doch an dem Bilde, das das Auge davonträgt, die Vergrößerung nicht möglich, welcher die Aufnahme unterzogen wird. Das heißt, daß Massenbewegungen, und an ihrer Spitze der Krieg, eine der Apparatur besonders entgegenkommende Form des menschlichen Verhaltens darstellen. – Die Massen haben ein R e c h t auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen A u s d r u c k in deren Konservierung zu geben. Er läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Mit d’Annunzio hat die Dekadence in die Politik ihren Einzug gehalten, mit Marinetti der Futurismus und mit Hitler die Schwabinger Tradition.

      Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik konvergieren in e i n e m Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg und nur der Krieg macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben. So formuliert sich der Tatbestand von der Politik her. Von der Technik her formuliert er sich folgendermaßen: Nur der Krieg macht es möglich, die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren. Es ist selbstverständlich, daß die Apotheose des Krieges durch den Faschismus sich nicht dieser Argumente bedient. Trotzdem ist ein Blick auf sie lehrreich. In Marinettis Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg heißt es: »Seit 27 Jahren erheben wir Futuristen uns dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird … Demgemäß stellen wir fest: … Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphons, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen bereichert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft … Dichter und Künstler des Futurismus … erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik … von ihnen erleuchtet werde!«

      Dieses Manifest hat den Vorzug der Deutlichkeit. Seine Fragestellung verdient, von dem Schöngeist an den Dialektiker überzugehen. Ihm stellt sich die Ästhetik des heutigen Krieges folgendermaßen dar: Wird die natürliche Verwertung der Produktivkräfte durch die Eigentumsordnung hintangehalten, so drängt die Steigerung der technischen Behelfe, der Tempi, der Kraftquellen nach einer unnatürlichen. Sie findet sie im Kriege, der mit seinen Zerstörungen den Beweis dafür antritt, daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht ausgebildet genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen. Der imperialistische Krieg ist in seinen grauenhaftesten Zügen bestimmt durch die Diskrepanz zwischen gewaltigen Produktionsmitteln und ihrer unzulänglichen Verwertung im Produktionsprozeß (mit andern Worten durch die Arbeitslosigkeit und den Mangel an Absatzmärkten). Er ist ein Sklavenaufstand der Technik, die am »Menschenmaterial« die Ansprüche eintreibt, denen sich die Gesellschaft entzogen hat. Anstelle von Kraftwerken setzt sie die Menschenkraft – in Gestalt von Armeen – ins Land. Anstelle des Luftverkehrs setzt sie den Verkehr von Geschossen und im Gaskriege hat sie ein Mittel, die Aura auf neue Art abzuschaffen.

      »Fiat ars – pereat mundus« sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour l’art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es mit der Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.

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