Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


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gestellten Vorgang zuteil werden läßt. Im ersten Fall ist das Reproduzierte ein Kunstwerk und die Reproduktion ist es nicht. Denn die Leistung des Kameramanns am Objektiv ist ebensowenig ein Kunstwerk wie die eines Dirigenten an einem Symphonieorchester; sie ist bestenfalls eine Kunstleistung. Anders bei der Aufnahme im Filmatelier. Hier ist schon das Reproduzierte kein Kunstwerk und die Reproduktion ihrerseits ist das natürlich ebensowenig wie sonst eine Photographie. Das Kunstwerk entsteht hier im besten Fall erst auf Grund der Montage. Es beruht im Film auf einer Montage, von der jedes einzelne Bestandstück die Reproduktion eines Vorgangs ist, der ein Kunstwerk weder an sich ist noch in der Photographie ein solches ergibt. Was sind diese im Film reproduzierten Vorgänge, da sie doch keine Kunstwerke sind?

      Die Antwort muß von der eigentümlichen Kunstleistung des Filmdarstellers ausgehen. Ihn unterscheidet vom Bühnenschauspieler, daß seine Kunstleistung in ihrer originalen Form, in der sie der Reproduktion zugrunde liegt, nicht vor einem zufälligen Publikum sondern vor einem Gremium von Fachleuten vor sich geht, die als Produktionsleiter, Regisseur, Kameramann, Tonmeister, Beleuchter usw. jederzeit in die Lage geraten können, in seine Kunstleistung einzugreifen. Es handelt sich hier um eine gesellschaftlich sehr wichtige Kennmarke. Das Eingreifen eines sachverständigen Gremiums in eine Kunstleistung ist nämlich charakteristisch für die sportliche Leistung und im weitern Sinn für die Testleistung überhaupt. Ein solches Eingreifen aber bestimmt in der Tat den Prozeß der Filmproduktion durchgehend. Viele Stellen werden bekanntlich in Varianten gedreht. Ein Hilfeschrei beispielsweise kann in verschiednen Ausfertigungen registriert werden. Unter diesen nimmt der Cutter dann eine Wahl vor; er statuiert gleichsam den Rekord unter ihnen. Ein im Aufnahmeatelier dargestellter Vorgang unterscheidet sich also von dem entsprechenden wirklichen so wie das Werfen eines Diskus auf einem Sportplatz in einem Wettbewerb unterschieden ist von dem Werfen der gleichen Scheibe am gleichen Ort auf die gleiche Strecke, wenn es geschähe, um einen Mann zu töten. Das erste wäre eine Testleistung, das zweite nicht.

      Nun ist allerdings die Testleistung des Filmdarstellers eine vollkommen einzigartige. Worin besteht sie? Sie besteht in der Überwindung einer gewissen Schranke, welche den gesellschaftlichen Wert von Testleistungen in enge Grenzen schließt. Es ist hier nicht von der sportlichen Leistung die Rede sondern von der Leistung am mechanisierten Test. Der Sportsmann kennt gewissermaßen nur den natürlichen; er mißt sich an Aufgaben, wie die Natur sie bietet, nicht an denen einer Apparatur – es sei denn in Ausnahmefällen, wie Nurmi, von dem man sagte, daß er gegen die Uhr lief. Inzwischen ruft der Arbeitsprozeß, besonders seit er durch das laufende Band normiert wurde, täglich unzählige Prüfungen am mechanisierten Test hervor. Diese Prüfungen erfolgen unter der Hand: wer sie nicht besteht, wird aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet. Sie erfolgen aber auch eingeständlich: in den Instituten für Berufseignungsprüfung. Dabei stößt man nun auf die oben erwähnte Schranke.

      Diese Prüfungen sind nämlich, zum Unterschied von den sportlichen, nicht im wünschenswerten Maß ausstellbar. Und genau dies ist die Stelle, an der der Film eingreift. Der Film macht die Testleistung ausstellbar indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht. Der Filmdarsteller spielt ja nicht vor einem Publikum sondern vor einer Apparatur. Der Aufnahmeleiter steht genau an der Stelle, an der bei der Eignungsprüfung der Versuchsleiter steht. Im Licht der Jupiterlampen zu spielen und gleichzeitig den Bedingungen des Mikrophons zu genügen, ist eine Testforderung ersten Ranges. Ihr entsprechen heißt, im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit beibehalten. Das Interesse an dieser Leistung ist riesengroß. Denn eine Apparatur ist es, vor der die überwiegende Mehrzahl der Städtebewohner in Kontoren und in Fabriken während der Dauer des Arbeitstages ihrer Menschlichkeit sich entäußern muß. Abends füllen dieselben Massen die Kinos, um zu erleben, wie der Filmdarsteller für sie Revanche nimmt, indem seine Menschlichkeit (oder was ihnen so erscheint) nicht nur der Apparatur gegenüber sich behauptet, sondern sie dem eignen Triumph dienstbar macht.

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      Dem Film kommt es viel weniger darauf an, daß der Darsteller dem Publikum einen andern, als daß er der Apparatur sich selbst darstellt. Einer der ersten, der diesen Umbau des Darstellers durch die Testleistung gespürt hat, ist Pirandello gewesen. Es beeinträchtigt die Bemerkungen, die er in seinem Roman »Es wird gefilmt« darüber macht, nur wenig, daß sie sich darauf beschränken, die negative Seite des Vorgangs hervorzuheben. Noch weniger, daß sie an den stummen Film anschließen. Denn der Tonfilm hat an diesem Vorgang nichts Grundsätzliches geändert. Entscheidend bleibt, daß für eine Apparatur oder vielmehr – im Falle des Tonfilms – für zwei gespielt wird. »Der Filmdarsteller, schreibt Pirandello, fühlt sich wie im Exil. Exiliert nicht nur von der Bühne sondern von seiner eignen Person. Mit einem dunklen Unbehagen spürt er die unerklärliche Leere, die dadurch entsteht, daß sein Körper zur Ausfallserscheinung wird, daß er sich verflüchtigt und seiner Realität, seines Lebens, seiner Stimme und der Geräusche, die er verursacht, indem er sich rührt, beraubt wird, um sich in ein stummes Bild zu verwandeln, das einen Augenblick auf der Leinwand zittert und sodann in der Stille verschwindet … Die kleine Apparatur wird mit seinem Schatten vor dem Publikum spielen; und er selbst muß sich begnügen, vor ihr zu spielen.« (cit Léon Pierre-Quint: Signification du Cinéma L’art cinématographique II Paris 1927 p 14/15)

      In der Repräsentation des Menschen durch die Apparatur hat dessen Selbstentfremdung eine höchst produktive Verwertung erfahren. Diese Verwertung kann man daran ermessen, daß das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Pirandello es schildert, von Hause aus von der gleichen Art ist, wie das Befremden des romantischen Menschen vor seinem Spiegelbild – bekanntlich ein Lieblingsmotiv von Jean Paul. Nun aber ist dieses Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transportabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor die Masse. Das Bewußtsein davon verläßt den Filmdarsteller natürlich nicht einen Augenblick. Er weiß, während er vor der Apparatur steht, hat er es in letzter Instanz mit der Masse zu tun. Diese Masse ist’s, die ihn kontrollieren wird. Und gerade sie ist nicht sichtbar, noch nicht vorhanden, während er die Kunstleistung absolviert, die sie kontrollieren wird. Die Autorität dieser Kontrolle aber wird gesteigert durch jene Unsichtbarkeit. Freilich darf nie vergessen werden, daß die politische Auswertung dieser Kontrolle so lange wird auf sich warten lassen, bis sich der Film aus den Fesseln seiner kapitalistischen Ausbeutung befreit haben wird. Denn durch das Filmkapital werden die revolutionären Chancen dieser Kontrolle in gegenrevolutionäre verwandelt. Der von ihm geförderte Starkultus konserviert nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, welcher schon längst im fauligen Schimmer ihres Warencharakters besteht, sondern sein Komplement, der Kultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung der Masse, die der Faschismus an die Stelle ihrer klassenbewußten zu setzen sucht.

      Die Kunst der Gegenwart darf auf um so größere Wirksamkeit rechnen, je mehr sie sich auf Reproduzierbarkeit einrichtet, also je weniger sie das Originalwerk in den Mittelpunkt stellt. Wenn unter allen Künsten die dramatische am offenkundigsten von der Krise befallen ist, so liegt das in der Natur der Sache. Denn zu dem restlos von der technischen Reproduktion erfaßten, ja – wie der Film – aus ihr hervorgehenden Kunstwerk gibt es keinen entschiedenem Gegensatz als das der Schaubühne mit seinem jedesmal neuen und originären Einsatz des Schauspielers. Jede eingehendere Betrachtung bestätigt das. Sachkundige Beobachter haben längst erkannt, daß »die größten Wirkungen fast immer erzielt werden, indem man so wenig wie möglich ›spielt‹ … Die letzte Entwicklung« sieht Arnheim 1932 darin, »den Schauspieler wie ein Requisit zu behandeln, das man charakteristisch auswählt und … an der richtigen Stelle einsetzt.« (Rudolf Arnheim: Film als Kunst Berlin 1932 p 176/177) Damit hängt sehr eng etwas anderes zusammen. Der Schauspieler, der auf der Bühne agiert, versetzt sich in eine Rolle. Dem Filmdarsteller ist das sehr oft versagt. Seine Leistung ist durchaus keine einheitliche, sondern aus vielen einzelnen zusammengestellt, deren Hier und Jetzt von ganz zufälligen Rücksichten auf Ateliermiete, Verfügbarkeit von Partnern, Dekor usw. bestimmt wird. So kann ein Sprung aus dem Fenster im Atelier in Gestalt eines Sprungs vom Gerüst gedreht werden, die sich anschließende Flucht aber unter Umständen Wochen nachher bei einer Außenaufnahme. – Im übrigen sind weit paradoxere Montagen möglich. Es kann, nach einem Klopfen gegen die Tür, vom Darsteller gefordert werden, daß er zusammenschrickt. Vielleicht


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