Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.Recht und damit auch den Strahl, der auf ihn fällt; der arme Schlucker trägt in seinem Innern die Ehre Frankreichs; die Würde des Staatsbürgers ist eine innere Wehr; wer frei ist, der ist gewissenhaft; und wer Stimmrecht hat, der regiert.«1015 Victor Hugo sah die Dinge, wie die Erfahrungen der erfolgreichsten literarischen und einer glänzenden politischen Laufbahn sie vor ihn hinstellten. Er war der erste große Schriftsteller, der Kollektivtitel in seinem Werke hat – »Les misérables«, »Les travailleurs de la mer«. Menge hieß ihm, fast im antiken Sinne, die Menge der Klienten – das war seiner Leser- und seiner Wählermassen. Hugo war, mit einem Wort, kein Flaneur.
Für die Menge, die mit Hugo und mit der er ging, gab es keinen Baudelaire. Wohl aber existierte sie, diese Menge, für ihn. Ihr Anblick veranlaßte ihn tagtäglich, die Tiefe seines Mißerfolgs auszuloten. Und das war unter den Gründen, aus denen er diesen Anblick suchte, wohl nicht der letzte. Den verzweifelten Hochmut, der ihn so, gewissermaßen in Schüben, heimsuchte, nährte er am Ruhme von Victor Hugo. Noch heftiger stachelte ihn wahrscheinlich dessen politisches Glaubensbekenntnis an. Es war das Glaubensbekenntnis des citoyen. Die Masse der großen Stadt konnte ihn nicht beirren. Er erkannte die Volksmenge in ihr wieder. Er wollte Stoff sein von ihrem Stoff. Laizismus, Fortschritt und Demokratie waren das Banner, das er über den Häuptern schwang. Dieses Banner verklärte das Massendasein. Es verschattete eine Schwelle, die den Einzelnen von der Menge trennt. Diese Schwelle hütete Baudelaire; das unterschied ihn von Victor Hugo. Er ähnelte ihm jedoch darin, daß auch er den gesellschaftlichen Schein nicht durchschaute, welcher sich in der Menge niederschlägt. Er setzte ihr darum ein Leitbild entgegen, so unkritisch wie die Hugosche Konzeption von ihr. Der Heros ist dieses Leitbild. Im Augenblick, da Victor Hugo die Masse als den Helden in einem modernen Epos feiert, hält Baudelaire nach einem Zufluchtsort des Helden in der Masse der Großstadt Ausschau. Als citoyen versetzt Hugo sich in die Menge, als Heros sondert sich Baudelaire von ihr ab.
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III Die Moderne
Baudelaire hat sein Bild vom Künstler einem Bilde vom Helden angeformt. Beide treten von Anfang an füreinander ein. »Die Willenskraft«, so heißt es im »Salon de 1845«, »muß eine wirklich kostbare Gabe sein und wird offenbar nie vergebens eingesetzt, denn sie genügt, um selbst … Werken … zweiten Ranges etwas Unverwechselbares zu geben … Der Beschauer genießt die Mühe; er schlürft den Schweiß.«1016 In den »Conseils aux jeunes littérateurs« vom nächsten Jahr steht die schöne Formel, in der die »contemplation opiniâtre de l’œuvre de demain«1017 als die Gewähr der Inspiration erscheint. Baudelaire kennt die »indolence naturelle des inspirés«1018; wieviel Arbeit dazu gehört, »aus einer Träumerei ein Kunstwerk hervorgehen zu lassen«1019, habe ein Musset nie begriffen. Er dagegen tritt vom ersten Augenblick an mit einem eigenen Kodex, eigenen Satzungen und Tabus vor das Publikum. Barrès will »in jeder geringsten Vokabel von Baudelaire die Spur der Mühen erkennen, die ihm zu so Großem verholfen haben«1020. »Bis in seine nervöse Krise hinein«, schreibt Gourmont, »behält Baudelaire etwas Gesundes.«1021 Am glücklichsten formuliert der Symbolist Gustave Kahn, wenn er sagt, daß »die dichterische Arbeit bei Baudelaire einer körperlichen Anstrengung ähnlich sah«1022. Dafür ist der Beweis im Werk zu finden – in einer Metapher, die nähere Betrachtung lohnt.
Diese Metapher ist die des Fechters. Baudelaire liebte es, unter ihr die Züge des Martialischen als artistische vorzustellen. Wenn er Constantin Guys, an dem er hing, beschreibt, so sucht er ihn um die Zeit, da die andern schlafen, auf: »wie er dasteht, über den Tisch gebeugt, mit der gleichen Schärfe das Blatt Papier visiert wie am Tag die Dinge um ihn herum; wie er mit seinem Stift, seiner Feder, dem Pinsel ficht; Wasser aus seinem Glas zur Decke spritzen und die Feder an seinem Hemd sich versuchen läßt; wie geschwind und heftig er hinter der Arbeit her ist, als fürchte er, die Bilder entwischten ihm. So ist er streitbar, wenn auch allein und pariert seine eigenen Stöße.«1023 In solch »phantastischem Gefecht« begriffen hat Baudelaire sich selbst in der Anfangsstrophe des »Soleil« porträtiert, und das ist wohl die einzige Stelle der »Fleurs du mal«, die ihn bei der poetischen Arbeit zeigt. Das Duell, in dem jeder Künstler begriffen ist und in dem er, »ehe er besiegt wird, vor Schrecken aufschreit«1024, ist in den Rahmen einer Idylle gefaßt; seine Gewaltsamkeiten treten in den Hintergrund, und es läßt seinen Charme erkennen.
Le long du vieux faubourg, où pendent aux masures
Les persiennes, abri des secrètes luxures,
Quand le soleil cruel frappe à traits redoublés
Sur la ville et les champs, sur les toits et les blés,
Je vais m’exercer seul à ma fantasque escrime,
Flairant dans tous les coins les hasards de la rime,
Trébuchant sur les mots comme sur les pavés,
Heurtant parfois des vers depuis longtemps rêvés. 1025
Diesen prosodischen Erfahrungen auch in der Prosa ihr Recht werden zu lassen, war eine der Absichten, denen Baudelaire im »Spleen de Paris« – seinen Gedichten in Prosa – nachgegangen war. In seiner Widmung der Sammlung an den Chefredakteur der »Presse« Arsène Houssaye kommt neben dieser Absicht zum Ausdruck, was jenen Erfahrungen eigentlich zu Grunde lag. »Wer unter uns hätte nicht schon in den Tagen des Ehrgeizes das Wunderwerk einer poetischen Prosa erträumt? Sie müßte musikalisch ohne Rhythmus und ohne Reim sein; sie müßte geschmeidig und spröd genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewußtseins anzupassen. Dieses Ideal, das zur fixen Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zuhause ist.«1026
Will man diesen Rhythmus vergegenwärtigen und dieser Arbeitsweise nachgehen, so zeigt es sich, daß Baudelaires Flaneur nicht in dem Grade ein Selbstporträt des Dichters ist, wie man es meinen könnte. Ein bedeutender Zug des wirklichen Baudelaire – nämlich des seinem Werk verschriebenen – ist in dieses Bildnis nicht eingegangen. Das ist die Geistesabwesenheit. – Im Flaneur feiert die Schaulust ihren Triumph. Sie kann sich in der Beobachtung konzentrieren – das ergibt den Amateurdetektiv; sie kann im Gaffer stagnieren – dann ist aus dem Flaneur ein badaud geworden1027. Die aufschlußreichen Darstellungen der Großstadt stammen weder von dem einen noch von dem andern. Sie stammen von denen, die die Stadt gleichsam abwesend, an ihre Gedanken oder Sorgen verloren, durchquert haben. Ihnen wird das Bild der fantasque escrime gerecht; auf deren Verfassung, die alles andere als die des Beobachters ist, hat Baudelaire es abgesehen. In seinem Buch über Dickens hat Chesterton meisterhaft den gedankenverloren die Großstadt Durchstreifenden festgehalten. Die standhaften Irrgänge von Charles Dickens hatten in seinen Kinderjahren begonnen. »Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, blieb ihm nichts übrig als herumzustrolchen, und er strolchte durch halb London. Er war als Kind träumerisch; sein trauriges Schicksal beschäftigte ihn mehr als anderes … In der Dunkelheit stand er unter den Laternen von Holbome und in Charing Cross litt er das Martyrium.« »Er legte es nicht auf Beobachtung an, wie das die Pedanten tun; er guckte nicht, um sich zu bilden, Charing Cross an; er zählte nicht die Laternen von Holborne, um Arithmetik zu lernen … Dickens nahm nicht den Abdruck der Dinge in seinen Geist auf; es war viel eher so, daß er seinen Geist den Dingen eindrückte.«1028
Nicht oft konnte sich Baudelaire in den späteren Jahren als Promeneur durch die pariser Straßen bewegen. Seine Gläubiger verfolgten ihn, die Krankheit meldete sich und Zerwürfnisse zwischen ihm und seiner Mätresse traten hinzu. Die Chocks, mit denen seine Sorgen ihm zusetzten und die hundert Einfälle, mit denen er sie parierte, bildet der dichtende Baudelaire in den Finten seiner Prosodie nach. Die Arbeit, die Baudelaire seinen Gedichten zuwandte, unterm Bild des Gefechts erkennen, heißt, sie als eine ununterbrochene Folge kleinster Improvisationen begreifen lernen. Die Varianten seiner Gedichte bezeugen, wie beständig er an der Arbeit war und wie sehr das geringste ihn dabei bekümmerte. Diese Streifzüge, auf denen er seinen poetischen Sorgenkindern an den Ecken von Paris in die Arme lief, waren nicht immer freiwillige. In den