Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.zu seiner theoretischen Staatsraison, ihren Zusammenhang untereinander – wo einer vorhanden war – zu beschatten. Derartige Schattenpartien sind durch die Briefe fast immer aufzuhellen. Ohne ein solches Verfahren notwendig zu machen, läßt die angezogene Stelle von 1859 ihren unzweifelhaften Zusammenhang mit einer mehr als zehn Jahre früheren und besonders befremdlichen klar erkennen. Die folgende Kette, von Überlegungen rekonstruiert diesen.
Die Widerstände, die die Moderne dem natürlichen produktiven Elan des Menschen entgegensetzt, stehen im Mißverhältnis zu seinen Kräften. Es ist verständlich, wenn er erlahmt und in den Tod flüchtet. Die Moderne muß im Zeichen des Selbstmords stehen, der das Siegel unter ein heroisches Wollen setzt, das der ihm feindseligen Gesinnung nichts zugesteht. Dieser Selbstmord ist nicht Verzicht sondern heroische Passion. Er ist die Eroberung der Moderne im Bereiche der Leidenschaften1042. So, nämlich als die passion particulière de la vie moderne, tritt der Selbstmord an der klassischen Stelle auf, die der Theorie der Moderne gewidmet ist. Der Freitod antiker Helden ist eine Ausnahme. »Wo findet man, abgesehen von Herakles auf dem Berge Oeta, von Cato von Utica und von Kleopatra, … Selbstmorde in den antiken Darstellungen?«1043 Nicht als ob Baudelaire sie in den modernen fände; der Hinweis auf Rousseau und Balzac, der diesem Satze folgt, ist ein dürftiger. Aber den Rohstoff solcher Darstellungen hält die Moderne bereit; und sie wartet auf seinen Meister. Dieser Rohstoff hat sich in eben den Schichten abgesetzt, die sich durchweg als Fundament der Moderne herausstellen. Die ersten Aufzeichnungen zu deren Theorie sind von 1845. Um die gleiche Zeit ist die Vorstellung des Selbstmords in den arbeitenden Massen heimisch geworden. »Man reißt sich um die Abzüge einer Lithographie, die einen englischen Arbeiter darstellt, wie er sich in der Verzweiflung, sein Brot nicht mehr verdienen zu können, das Leben nimmt. Ein Arbeiter geht sogar in die Wohnung von Eugène Sue und hängt sich dort auf; in der Hand hat er einen Zettel: ›… Ich dachte, der Tod möchte mir leichter werden, wenn ich ihn unter dem Dach des Mannes sterbe, der für uns eintritt und der uns liebt.‹«1044 Adolphe Boyer, ein Buchdrucker, publizierte 1841 die kleine Schrift »De l’état des ouvriers et de son amélioration par l’organisation du travail«. Es war eine gemäßigte Darlegung, die die alten in Zunftgebräuchen befangenen Korporationen der wandernden Handwerksburschen für die Arbeiterassoziation zu gewinnen suchte. Sie hatte keinen Erfolg; der Verfasser nahm sich das Leben und forderte in einem offenen Brief seine Leidensgenossen auf, ihm nachzufolgen. Der Selbstmord konnte sehr wohl einem Baudelaire als die einzig heroische Handlung vor Augen stehen, die den multitudes maladives der Städte in den Zeiten der Reaktion verblieben war. Vielleicht sah er den Rethelschen Tod, den er sehr bewunderte, als gelenkigen Zeichner vor einer Staffelei, die Todesarten der Selbstmörder auf die Leinwand werfend. Was die Farben des Bildes angeht, so bot die Mode ihre Palette dar.
Seit der Julimonarchie begann in der Männerkleidung das Schwarze und Graue vorzuwalten. Diese Neuerung beschäftigte Baudelaire im »Salon von 1845«. Im Schlußwort seiner Erstlingsschrift führt er aus: »Vor allen anderen wird derjenige der Maler heißen, der dem gegenwärtigen Leben seine epische Seite abgewinnt und uns in Linien und Farben verstehen lehrt, wie groß und poetisch wir in unseren Lackschuhen und Krawatten sind. – Mögen die wirklichen Pioniere uns nächstes Jahr die erlesene Freude machen, die Heraufkunft des wahrhaft Neuen feiern zu dürfen.«1045 Ein Jahr darauf: »Um auf den Anzug, die Hülle des modernen Heros zu kommen – … sollte der nicht seine Schönheit und seinen ihm eigenen Charme haben …? Ist das nicht der Anzug wie ihn unsere Epoche braucht; denn sie leidet und trägt noch auf ihren schwarzen, mageren Schultern das Symbol einer ewigen Traurigkeit. Der schwarze Anzug und der Gehrock haben ja nicht nur als Ausdruck der allgemeinen Gleichheit ihre politische Schönheit – sie haben auch eine poetische, und zwar als Ausdruck der öffentlichen Geistesverfassung, dargestellt in einer unabsehbaren Prozession von Leichenbittern – politischen Leichenbittern, erotischen Leichenbittern, privaten Leichenbittern. Irgendeine Beisetzung feiern wir alle. – Die durchgehend gleiche Livree der Trostlosigkeit beweist die Gleichheit … Und haben die Falten im Stoff, die Grimassen schneiden und sich wie Schlangen um erstorbenes Fleisch legen, nicht ihren verborgenen Reiz?«1046 Diese Vorstellungen haben an der tiefen Faszination Anteil, die die in Trauer gekleidete Passantin des Sonetts auf den Dichter ausübt. Der Text von 1846 schließt dann: »Denn die Heroen der Ilias reichen euch nicht das Wasser, Vautrin, Rastignac, Birotteau – und dir Fontanarès, der du nicht gewagt hast, dem Publikum zu gestehen, was du unter dem makabren, wie im Krampfe zusammengezogenen Frack durchmachtest, welchen wir alle tragen; – und dir Honoré de Balzac, die sonderbarste, die romantischste und die poetischste unter allen Figuren, die deine Phantasie erschaffen hat.«1047
Fünfzehn Jahre später kommt der süddeutsche Demokrat Friedrich Theodor Vischer in einer Kritik der Herrenmode zu Erkenntnissen, die denen von Baudelaire ähnlich sind. Nur ändert sich ihr Akzent; was bei Baudelaire als Farbton in den dämmernden Prospekt der Moderne eingeht, liegt bei Vischer als blankes Argument im politischen Kampf zur Hand. »Farbe bekennen«, schreibt Vischer mit dem Blick auf die seit 1850 herrschende Reaktion, »gilt für lächerlich, straff sein für kindisch; wie sollte da die Tracht nicht auch farblos, schlaff und eng zugleich werden?«1048 Die Extreme berühren einander; Vischers politische Kritik überschneidet, wo sie sich metaphorisch ausprägt, ein frühes Phantasiebild von Baudelaire. In einem Sonett, dem »Albatros« – es stammt von der überseeischen Reise, durch die man den jungen Dichter zu bessern hoffte – erkennt Baudelaire sich in diesen Vögeln, deren Unbeholfenheit auf dem Schiffsdeck, wo die Mannschaft sie ausgesetzt hat, er so beschreibt:
A peine les ont-ils déposés sur les planches,
Que ces rois de l’azur, maladroits et honteux,
Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches
Comme des avirons traîner à côté d’eux.
Ce voyageur ailé, comme il est gauche et veule! 1049
Von den weiten, übers Gelenk fallenden Ärmeln des Jackettanzuges sagt Vischer: »Das sind nicht mehr Arme, sondern Flügelrudimente, Pinguinsflügelstümpfe, Fischflossen und die Bewegung der formlosen Anhängsel im Gang sieht einem thörichten, simpelhaften Fuchteln, Schieben, Nachjücken, Rudern gleich.«1050 Die gleiche Ansicht der Sache – das gleiche Bild.
Folgendermaßen bestimmt Baudelaire das Angesicht der Moderne deutlicher – das Kainszeichen auf ihrer Stirn nicht verleugnend: »Die Mehrzahl der Dichter, die sich mit wirklich modernen Sujets befaßten, hat sich mit den abgestempelten, offiziellen begnügt – diese Dichter beschäftigten sich mit unseren Siegen und mit unserem politischen Heroismus. Auch das tun sie widerwillig, nur weil die Regierung sie dazu kommandiert und sie honoriert. Und doch gibt es Sujets aus dem Privatleben, die bedeutend heroischer sind. Das Schauspiel des mondänen Lebens und der Tausende ungeregelter Existenzen, die in den Souterrains einer großen Stadt zuhause sind — der Verbrecher und der ausgehaltenen Frauen – die Gazette des tribunaux und der Moniteur beweisen, daß wir nur die Augen zu öffnen brauchen, um den Heroismus zu erkennen, den wir zu eigen haben.«1051 Ins Bild des Heros tritt hier der Apache. An ihm kommen die Charaktere, nachhause, die Bounoure an der Einsamkeit Baudelaires verzeichnet – »ein noli me tangere, eine Verkapslung des Individuums in seine Differenz«1052. Der Apache schwört den Tugenden und den Gesetzen ab. Er kündigt ein für alle Mal den contrat social. So glaubt er sich vom Bürger durch eine Welt geschieden. Er erkennt in ihm nicht die Züge des Spießgesellen, die sehr bald von Hugo in den »Châtiments« mit so mächtiger Wirkung gezeichnet wurden. Den Illusionen von Baudelaire sollte freilich ein sehr längerer Atem beschieden sein. Sie begründen die Poesie des Apachentums. Sie gelten einer Gattung, die in mehr als achtzig Jahren nicht abgebaut worden ist. Diese Ader hat Baudelaire als erster angeschlagen. Poes Held ist nicht der Verbrecher sondern der Detektiv. Balzac seinerseits kennt nur den großen Außenseiter der Gesellschaft. Vautrin erfährt Aufstieg und Absturz; er hat eine Karriere wie alle Balzacschen Helden. Die Verbrecherlaufbahn ist eine wie die andern. Auch Ferragus sinnt auf Großes und plant ins Weite; er ist vom Schlage der carbonari. Der Apache, welcher sein Leben lang auf die Bannmeile der Gesellschaft wie der großen Stadt angewiesen bleibt, hat vor Baudelaire in der Literatur keine Stelle. Die schärfste Prägung dieses Sujets in den »Fleurs du mal«, der »Vin