Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Читать онлайн книгу.ordonnance.
O savants médecins,
Habiles chirurgiens,
De nous pourquoi ne faire
Comme du pont de pierre. 10771078
Geffroy trifft in das Zentrum von Meryons Werk, er trifft auch dessen Verwandtschaft mit Baudelaire, vor allem aber trifft er die Treue in der Wiedergabe der Stadt Paris, die bald von Trümmerfeldern durchsetzt werden sollte, wenn er die Einzigartigkeit dieser Blätter darin sucht, »daß sie, wiewohl unmittelbar nach dem Leben verfertigt, den Eindruck von abgelaufenem Leben machen, das erstorben ist oder das sterben wird«10791080. Baudelaires Meryon-Text gibt unter der Hand die Bedeutsamkeit dieser pariser Antike zu verstehen. »Selten haben wir mit mehr dichterischer Kraft die natürliche Feierlichkeit einer großen Stadt dargestellt gesehen: die Majestät der aufgehäuften Steinmassen, die Kirchtürme, deren erhobener Finger auf den Himmel deutet, die Obelisken der Industrie, welche Heerscharen Rauches gegen das Firmament entbieten1081, die Gerüste, die ihr durchbrochenes, spinnwebhaftes Gefüge so paradox über den massiven Block der Bauten, an denen man bessert, legen, den dunstigen von Zorn geschwängerten und von Groll schweren Himmel und die tiefen Durchblicke, deren Poesie in den Dramen wohnt, mit denen man sie im Geist ausstattet – keines der komplexen Elemente, aus denen der teuer erkaufte und ruhmreiche Dekor der Zivilisation sich zusammensetzt, ist vergessen worden.«1082 Unter den Plänen, deren Scheitern man wie einen Verlust beklagen kann, ist der des Verlegers Delâtre zu rechnen, der die Meryonsche Folge mit Texten von Baudelaire veröffentlichen wollte. Daß diese Texte nicht geschrieben wurden, geht auf den Graphiker zurück; er vermochte nicht, sich die Aufgabe Baudelaires anders vorzustellen denn als ein Inventar der von ihm wiedergegebenen Häuser und Straßenzüge. Wäre Baudelaire an diese Aufgabe herangetreten, so würde das Wort von Proust über »die Rolle der antiken Städte im Werke von Baudelaire und die Scharlachfarbe, die sie ihm stellenweise mitteilen«1083, sinnfälliger geworden sein als es sich heute liest. Unter diesen Städten stand für ihn Rom voran. In einem Aufsatz über Leconte de Lisle gesteht er seine »natürliche Vorliebe« für diese Stadt. Wahrscheinlich ist er zu ihr durch die Veduten von Piranesi gekommen, auf denen die nicht restaurierten Ruinen noch als eins mit der neuen Stadt erscheinen.
Das Sonett, das als neununddreißigstes Gedicht der »Fleurs du mal« figuriert, beginnt:
Je te donne ces vers afin que si mon nom
Aborde heureusement aux époques lointaines,
Et fait rêver un soir les cervelles humaines,
Vaisseau favorisé par un grand aquilon,
Ta mémoire, pareille aux fables incertaines,
Fatigue le lecteur ainsi qu’un tympanon. 1084
Baudelaire will gelesen werden wie ein Antiker. Erstaunlich schnell wurde die Forderung fällig. Denn die ferne Zukunft, die époques lointaines, von denen das Sonett spricht, sind gekommen; soviel Jahrzehnte nach seinem Tode als sich Baudelaire Jahrhunderte gedacht mag haben. Zwar steht Paris noch; und die großen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung sind noch die gleichen. Aber je beständiger sie géblieben sind, desto hinfälliger wurde an der Erfahrung von ihnen alles, was im Zeichen des ›wahrhaft Neuen‹ gestanden hatte. Die Moderne ist sich am wenigsten gleich geblieben; und die Antike, die in ihr stecken sollte, stellt in Wahrheit das Bild des Veralteten. »Man findet Herculanum unter der Asche wieder; aber einige Jahre verschütten die Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane.«1085
Die Antike von Baudelaire ist die römische. Nur an einer Stelle ragt die griechische Antike in seine Welt hinein. Griechenland stellt ihm das Bild von der Heroine, welches ihm würdig und fähig schien, in die Moderne übertragen zu werden. Griechische Namen – Delphine und Hippolyte – tragen die Frauenbilder in einem der größten und berühmtesten Stücke der »Fleurs du mal«. Es ist der lesbischen Liebe gewidmet. Die Lesbierin ist die Heroine der modernité. In ihr ist ein erotisches Leitbild von Baudelaire – die Frau, die von Härte und Mannheit sagt – von einem geschichtlichen Leitbild durchdrungen worden – dem der Größe in der antiken Welt. Das macht die Stellung der lesbischen Frau in den »Fleurs du mal« unverwechselbar. Es erklärt, warum ihnen von Baudelaire lange Zeit der Titel »Les lesbiennes« zugedacht worden ist. Im übrigen ist Baudelaire weit entfernt, die Lesbierin für die Kunst entdeckt zu haben. Balzac in seiner »Fille aux yeux d’or« hat sie schon gekannt; Gautier in »Mademoiselle de Maupin«, Delatouche in der »Fragoletta«. Auch bei Delacroix trat sie Baudelaire entgegen; etwas umwunden spricht er in der Kritik seiner Bilder von einer »heroischen Manifestation der modernen Frau in der Richtung des Infernalischen«1086.
Das Motiv ist im Saintsimonismus beheimatet, der in seinen kultischen Velleitäten oft die Idee der Androgyne verwertet hat. Zu ihnen zählt der Tempel, der in Duveyriers ›Neuer Stadt‹ prangen sollte. Ein Adept der Schule bemerkt von ihm: »Der Tempel muß eine Androgyne darstellen, einen Mann und eine Frau … Die gleiche Teilung muß für die ganze Stadt vorgesehen werden, ja für das ganze Königreich und die gesamte Erde: es wird die Hemisphäre des Mannes und die der Frau geben.«1087 Faßlicher als in dieser Architektur, die nicht gebaut wurde, ist die saintsimonistische Utopie ihrem anthropologischen Inhalt nach in den Gedankengängen von Claire Demar. Über den großspurigen Phantasien von Enfantin ist Claire Demar vergessen worden. Dem Kern der saintsimonistischen Theorie – nämlich der Hypostasierung der Industrie als der Kraft, die die Welt bewegt – steht das Manifest, das sie hinterließ, näher als der Mutter-Mythos von Enfantin. Um die Mutter geht es auch diesem Text, aber in wesentlich anderer Meinung als denen, die von Frankreich aufbrachen, um im Morgenlande nach ihr zu suchen. In der weit verzweigten Literatur der Zeit, die es mit der Zukunft der Frau zu tun hat, steht er vereinzelt durch Kraft und durch Leidenschaft. Er erschien mit dem Titel »Ma loi d’avenir«. In seinem Schlußabschnitt heißt es: »Keine Mutterschaft mehr! kein Gesetz des Blutes. Ich sage: keine Mutterschaft mehr. Ist die Frau erst einmal … von Männern, die ihr den Preis ihres Körpers zahlen, befreit …, so wird sie ihr Dasein … nur ihrem eigenen Schaffen zu danken haben. Dazu muß sie sich einem Werke widmen und eine Funktion ausfüllen … So müßt ihr euch denn entschließen, das Neugeborene von der Brust der natürlichen Mutter dem Arm der sozialen Mutter zu übergeben, dem Arm der staatlich bestellten Amme. So wird das Kind besser erzogen werden … Dann erst, und früher nicht, werden Mann, Frau und Kind vom Gesetz des Bluts, dem Gesetze der Ausbeutung der Menschheit durch sie selber entbunden werden.«1088
Hier prägt sich das Bild der heldischen Frau, welches Baudelaire in sich aufnahm, in ursprünglicher Fassung aus. Seine lesbische Abwandlung wurde nicht erst von den Schriftstellern vorgenommen, sondern im saintsimonistischen Zirkel selbst. Was an Zeugnissen hier in Frage kommt, lag bei den Chronisten der Schule selbst gewiß nicht in den besten Händen. Immerhin besitzt man von einer Frau, die sich zur Lehre von Saint-Simon bekannte, folgende merkwürdige Konfession: »Ich begann, meinen Nächsten die Frau ebensosehr zu lieben wie meinen Nächsten den Mann … Ich ließ dem Manne seine physische Kraft und die ihm eigene Art von Intelligenz, setzte aber neben ihm als gleichwertig die körperliche Schönheit der Frau und die ihr eigene Art geistiger Gaben ein.«1089 Wie ein Echo dieses Bekenntnisses klingt eine kritische Reflexion von Baudelaire, deren man sich nicht leicht versehen hätte. Sie gilt Flauberts erster Heldin. »Madame Bovary ist ihrer besten Spannkraft und ihren ehrgeizigsten Zielen nach, aber auch in ihrem tiefsten Träumen … ein Mann geblieben. Wie die dem Haupte des Zeus entstiegene Pallas Athene hat diese sonderbare Androgyne alle verführerische Gewalt erhalten, die einem männlichen Geist in einem bezaubernden Frauenkörper zu eigen ist.«1090 Und weiter, über den Dichter selbst: »Alle intellektuellen Frauen werden ihm Dank wissen, das ›Weibchen‹ zu einer Höhe erhoben zu haben …, auf der sie an der Doppelnatur teilhat, die den vollendeten Menschen ausmacht: ebenso der Berechnung fähig zu sein wie der Träumerei.«1091 Mit einem Handstreich, wie er ihm immer gelegen hat, erhebt Baudelaire Flauberts Kleinbürgergattin zur Heroine.
Es gibt in Baudelaires Dichtung eine Anzahl von wichtigen, auch offenkundigen Tatsachen, die unbeachtet geblieben sind. Zu ihnen gehört