Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Читать онлайн книгу.

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


Скачать книгу
Bedeutung nehmen.

      In diesem Sinne zuvor einen herzlichen und vorbehaltlosen Dank unseren Lehrern, die uns während einer langen Schulzeit immer wieder Beweise ihrer schweren Arbeit zu unserem Besten gegeben haben.

      Zum zweiten aber stellen wir jene so einfache und ernste Frage: Was hat die Schule uns gegeben? Zunächst: Wissen, Wissen, Wissen. Manches davon kann fruchtbar werden, aber jetzt brauchen wir davon nicht zu reden; haben doch gerade die Besten unserer Lehrer uns immer wieder gesagt: »Nicht Wissen ist das, was die Schule Ihnen schließlich mitgeben soll«. – Sondern? – Arbeit und Gehorsam wollte sie uns mitgeben.

      Über die Arbeit sprach in einer der letzten Aula-Reden Herr Dr. Steinmann, in der Rede, die eine Epoche bedeutete. Sprach er doch vor Lehrern und Schülern in der Aula einer Schule nicht über Geographie und Technik u.ä., sondern über die Schule. Er meinte, Arbeit sei ein absoluter Wert, es komme nicht darauf an, wofür man arbeite. Wir möchten ihm entgegnen, daß es für den jungen Menschen keine wichtigere Frage gebe, als die nach dem Ziele seiner Arbeit.

      Auf diese Frage blieb uns die Schule die Antwort schuldig. Aus eigenster Erfahrung sagen wir, daß bei aller Schularbeit stets das quälende Gefühl des Willkürlichen und Ziellosen uns begleitete. Die Schule hat uns keine allgemeinen ernsten Pflichten gegeben, sondern nur Schulaufgaben. Und diesen täglichen Schulaufgaben gegenüber konnte sich kein lebendiges Pflichtgefühl entfalten, sondern die ewiggestrige Gewohnheit, nicht der Gedanke an ein Morgen, dem unsere Arbeit gelte, beherrschte unser Schulleben. Nicht der Gedanke, daß wir für Güter des Volkes oder der Menschheit, deren bewußte Glieder wir sind, arbeiten, durfte uns leuchten. Wir fassen das zusammen in einem Wort, dessen Schwere wir uns bewußt sind: Die Schule hat uns, indem unsere Arbeit kein Ziel vor sich sah, keine Ideale gegeben. Denn Ideale sind Ziele. (In solchen Gedanken aber mußten wir nicht selten Äußerungen unserer Lehrer über die Schulreform hören, wie: Die Schulreform wünscht Trennung der Schule vom Unterricht, oder: … so weit wir auch kommen mögen, ohne Arbeit wird nie etwas erreicht werden). Wir wollen kein Weniger an Pflichten, sondern ein Mehr: Das Bewußtsein, daß wir selber unsere Arbeit ernst nehmen müssen.

      Die Schule hat uns keine Ideale und ernsten Pflichten gegeben. Sie hat uns – welch abgedroschene Phrase – auch keine Rechte gegeben. Wie wir unsere Arbeit nicht ernst nehmen konnten, so durften wir uns selber nicht ernst nehmen. Wir haben keine Schülerschaft bilden dürfen. Viel Freiheiten wurden uns gelassen, wir durften Repetitionen abhalten, durften einen Ausschuß wählen, wir hatten es in dieser Beziehung vielleicht besser, als Schüler mancher anderen Schule. Aber das alles ist Gnade, kein Recht. Es waren Konzessionen an starke Strömungen in der Öffentlichkeit, Experimente, die wir nur allzu deutlich als solche empfinden mußten. Es waren Neuerungen, die nicht als im Wesen der Schülerschaft begründet anerkannt wurden. Und demgemäß konnte alles das auch keinen offenen freudigen Verkehr zwischen Lehrern und Schülern herbeiführen.

      Fern von der Schule hat bisher sich der beste Teil unserer Jugend abgespielt, fern von einer Schule, die dieser Jugendlichkeit keine Achtung entgegengebracht und ihr keine Ideale gegeben hat, die da glaubte, sogenannte »Dummejungenstreiche«, Unfug und kindisches Betragen gegen den Lehrer seien Äußerungen wahrer Jugendlichkeit. –

      Nichts würden wir tiefer bedauern, als wenn Verstimmung oder gar ein feindlich veränderter Kurs in der Erziehung die Folge dieser mit ernstem Bedacht geschriebenen und weit von Pathetik entfernten Zeilen wäre. Und kein schöneres Ende unserer Schulzeit könnten wir denken, als wenn nicht trotz, sondern auf Grund dieser Zeilen offener Verkehr und offene Aussprache mit unsern Lehrern, die wir während der Schulzeit entbehren mußten, ermöglicht würde.

      —————

      1912

      Die erste propagatorische Tat aller, die im Dienste der Schulreform wirken, muß sein: die Schulreform zu erretten von dem Odium, als sei sie ein Interesse der Interessierten oder ein Dilettantensturm gegen den Handwerkerstand der Pädagogen. »Die Schulreform ist eine Kulturbewegung«, das ist der erste Satz, der erfochten werden muß. Nur er rechtfertigt es, wenn aus dem Publikum immer wieder der Ruf nach Schulreform erschallt, wenn er immer wieder ans Volk gerichtet wird. Und anderseits: nur aus dieser Devise klingt aller Ernst und alle Hoffnung derer, die sich dieser Aufgabe widmen. – Eins zuvor! Man wird uns entgegenhalten; »Sehr begreiflich, was Ihr wollt! Kein neuer Gedanke, kein neuer Einfall erwacht in unserer lauten, demokratischen Zeit, der nicht sofort dringend Eingang sucht in die breitesten Massen, jeder will eben eine ›Kulturbewegung‹ sein, denn nicht nur einen Ehrentitel, sondern auch Macht bedeutet dieses Wort.« Und diesem Einwande gegenüber ist zu zeigen, daß die Schulreform jenseits spezieller wissenschaftlicher Thesen steht, daß sie eine Gesinnung, ein ethisches Programm unserer Zeit ist; gewiß nicht in dem Sinne, daß jeder es vertreten müsse, doch mit der Forderung: jeder muß zu ihm Stellung nehmen! – Kurz: in der Schulreformbewegung sprechen sich klar und dringend Bedürfnisse unserer Zeit aus, die, wie wohl all ihre größten Nöte, auf ethisch-kulturellem Gebiete liegen. Die Schulreform ist nicht weniger wichtig, als unser soziales und religiöses Problem – vielleicht aber klarer.

      In vieler Hinsicht kann von der Schulreform als einer Kulturbewegung gesprochen werden. Man könnte in jeder Reformbestrebung eine Kulturbewegung sehen: »In allem Neuen liegen lebensvolle Kräfte, ungeformt und gärend, aber verheißungsvoll …« Mit diesen und ähnlichen Vorstellungen gilt es ein für allemal zu brechen. Es ist ebenso sinnlos wie verwerflich, von Kulturbewegungen zu reden, wenn man nicht weiß, welche Bewegungen die Kultur fördern oder hemmen. Jedem Mißbrauch des verheißungsvollen und verführerischen Wortes wollen wir durch Klarheit begegnen. In diesem Sinne und in ganz bewußter, enger Beschränkung, die auch der Raum gebietet, sollen nur drei Elemente, diejenigen drei allerdings, die jedem aussichtsvollen schulreformatorischen Streben zugrunde liegen, als kulturell wertvoll und unersetzlich erwiesen werden.

      Was heißt und zu welchem Ende wollen wir Schulreform? so möchten wir Schillers bekanntes Thema variieren. Rudolf Pannwitz hat Erziehung einmal sehr treffend als »Fortpflanzung geistiger Werte« definiert. Das nehmen wir an und fragen nun: was heißt, sich mit der Fortpflanzung geistiger Werte beschäftigen?

      Das heißt erstens: wir wachsen hinaus über unsere Gegenwart. Nicht nur, daß wir sub specie aeternitatis denken – indem wir erziehen, leben und wirken wir sub specie aeternitatis. Wir wollen eine sinnvolle Kontinuität in aller Entwicklung; daß alle Geschichte nicht zerfalle in Sonderwillen einzelner Zeiten oder gar Individuen, daß die Aufwärtsentwicklung der Menschheit, an die wir glauben, nicht mehr in dumpfer biologischer Unbewußtheit vor sich gehe, sondern dem zielsetzenden Geiste folge: das wollen wir, d. h. Pflege der natürlichen Aufwärtsentwicklung der Menschheit: Kultur. Der Ausdruck dieses unseres Wollens ist: Erziehung.

      Werte fortpflanzen, das heißt aber noch ein Zweites. Nicht nur die Fortpflanzung des Geistigen und in diesem Sinne Kultur wird Problem, sondern die Fortpflanzung des Geistigen, das ist die zweite Forderung. Es erhebt sich die Frage nach den Werten, die wir unsern Nachkommen als höchstes Vermächtnis hinterlassen wollen. Die Schulreform ist nicht nur Reform der Fortpflanzung der Werte, sie wird zugleich Revision der Werte selbst. Das ist ihre zweite grundlegende Bedeutung für das kulturelle Leben.

      Im schulreformatorischen Leben unserer Tage offenbart sich klar genug diese doppelte Beziehung zur Kultur. Neue Methoden des Unterrichts und der Erziehung entstehen. Hier handelt es sich um die Art der Fortpflanzung und man kennt die Mannigfaltigkeit der Forderungen, die erhoben werden. Dringend mag man den Ruf nach Wahrhaftigkeit in den Erziehungsmethoden nennen. Man empfindet es als unwürdig, wenn der Lehrer ein Wissen vermittelt, von dessen Notwendigkeit er nicht überzeugt ist, wenn er das Kind, ja, noch den Jüngling mit Maßnahmen (Tadel, Arrest) erzieht, die er selber nicht ernst nimmt, oder wenn er gar mit innerlichem Lächeln – »geschieht ja zu seinem Besten« – ein moralisches Verdammungsurteil fällt. – Die Beziehung auf das Kulturproblem ist ganz klar. Es gilt einen Ausweg zu finden aus dem Widerstreit zwischen natürlicher wahrhaftiger Entwicklung einerseits und der Aufgabe, das natürliche Individuum zum kulturellen umzubilden anderseits, jener Aufgabe, die ohne Gewalt


Скачать книгу