Märchen. Группа авторов
Читать онлайн книгу.Erster Band. München: Winkler, S.302–312.
ANGER-SCHMIDT, GERDA; HABINGER, RENATE (2010): Das Buch, gegen das kein Kraut gewachsen ist. Kräuter und Gewürze von Augentrost bis Zimt. Wien: Nilpferd bei Residenz.
GOOD, PAUL (1998): Die Unbezüglichkeit der Kunst. München: Fink.
SLOTERDIJK, PETER (2009): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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NICOLA MITTERER und MARKUS PISSAREK forschen und lehren am Institut für GermanistikAECC, Abteilung Fachdidaktik, der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. E-Mail: [email protected] und [email protected]
Stefan Neuhaus
Über die allmähliche Verfertigung der Märchen beim Erzählen
Zur Entstehung der Gattung bei den Brüdern Grimm und E.T.A. Hoffmann
Die Gattung Märchen entsteht mit den Kinder- und Hausmärchen (1812/15) der Brüder Grimm und den Märchenerzählungen E.T.A. Hoffmanns. Im Rahmen einer »Archäologie« (vgl. Foucault 1981) lässt sich der Prozess der Naturalisierung der Gattung nachvollziehen. Die Kinderund Hausmärchen als prototypische »Volksmärchen« werden als Beitrag zum national-kulturellen Diskurs lesbar. Der politische Kontext der Zeit wirkte auf die Entstehung der Texte massiv ein, ohne dass die von Wilhelm Grimm stark schematisierten Texte selbst diese Spuren auf den ersten Blick zeigen. E.T.A. Hoffmann verwendet in Der goldne Topf von 1814 zum ersten Mal konsequent einen Dualismus von fiktionaler Realität und Wunderwelt, auch dieses Konzept wird gattungsbildend: für das sogenannte Kunst- oder Wirklichkeitsmärchen.
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Das abgewandelte Zitat im Titel (Heinrich von Kleist Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, entstanden vermutlich 1805/06, Erstdruck von 1878) soll auf den Konstruktionscharakter nicht nur aller Gedanken, sondern auch aller Gattungen hinweisen. Am Beispiel der Gattung Märchen soll versucht werden zu zeigen, wie sehr unser »kulturelles Gedächtnis« (vgl. Assmann 2002) von Konzepten geprägt ist, die vergleichsweise jung sind. Generell gilt, »[…] daß die Wahrnehmung, die Einspeicherung und der Aufruf von Erinnerungen kulturellen Schemata folgt« (Welzer 2005, S. 160). Der Prozess der Naturalisierung des Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen kulturellen Schemas oder Konzepts »Märchen« soll im Rahmen des gegebenen Umfangs eines solchen Beitrags nachvollzogen werden. Auch wenn es, mit Michel Foucault gesprochen, kein Außerhalb des Diskurses gibt (vgl. Foucault 2000, S. 25), so können doch im Rahmen einer (von ihm so benannten) »Archäologie« (Foucault 1981) die Voraussetzungen des Diskurses offen gelegt werden, um zu einer größeren Freiheit im Umgang mit den Gegenständen zu gelangen.
1. Die Kinder- und Hausmärchen als Beitrag zum national-kulturellen Diskurs
Die Entstehung der Kinder- und Hausmärchen (in der Folge KHM) der Brüder Grimm, die zu den berühmtesten Publikationen der Weltgeschichte zählen und deren Manuskript zum Weltdokumentenerbe gehört, ist eine Geschichte von Zufällen und Anfangsproblemen. Als Clemens Brentano mit Achim von Arnim Lieder und Gedichte für die 1806–1808 veröffentlichte Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn – deren Bedeutung für die deutschsprachige Lyrik den KHM ebenbürtig ist – suchte, kam er auf die Idee, auch eine Märchensammlung zu beginnen (vgl. Rölleke 2004, S. 35). Da er wusste, dass seine Bekannten Jacob und Wilhelm Grimm Bibliothekare in Kassel waren und somit an der Recherchequelle saßen, bat er sie um ihre Hilfe – doch verlor er bald das Interesse.
Die Brüder Grimm wussten das nicht, sammelten weiter und schickten Brentano das Manuskript – nicht ohne eine Abschrift anzufertigen, sonst gäbe es die KHM heute nicht. Denn Brentano antwortete nicht und nach längerem Überlegen und Zögern brachten die beiden Grimms, mit Hilfe von Achim von Arnim, die Sammlung nun selbst heraus (vgl. Rölleke 2004, S. 80 f.). Sie erschien in zwei Bänden 1812 und 1815 und lag wie Blei im Regal des Verlegers. Niemand wollte diese Sammlung kaufen, die in den jungen Jahren der Entstehung der Germanistik aus der Edition von Texten wie dem Nibelungenlied als eines von vielen Editionsprojekt entstanden war. Erst die weitere Bearbeitung durch Wilhelm Grimm, der dabei »seinen eigentümlichen Märchenstil« (ebd., S. 88) entwickelte, und vor allem die sogenannte »Kleine Ausgabe« von 1825 mit einer Auswahl von 50 Märchen und mit Illustrationen der nun auch »kindgerechten Märchentexte« von Ludwig Emil Grimm (ebd., S. 92) verhalf den KHM zum Durchbruch: »Die Erstauflage umfaßte 1500 Exemplare und wurde zu Lebzeiten Wilhelm Grimms zwischen 1833 und 1858 noch neunmal aufgelegt« (ebd., S. 93).
Im Geiste Johann Gottfried Herders wollten die Grimms der deutschen Nation auf die Sprünge helfen, die in politischer Hinsicht leider auch später nicht gemacht wurden (vgl. Neuhaus 2002). Die Befreiungskriege gegen Napoleon halfen nicht, eine moderne Nation mit parlamentarischer Mitbestimmung zu initiieren. Der Wiener Kongress schuf 1815 mit dem Deutschen Bund eine feudale, wenn auch leicht modernisierte Nachfolgeorganisation für das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das 1806 untergegangen war. Damit war – retrospektiv gesehen – politisch der Zug bereits abgefahren, eine Systemreform nach dem Muster Frankreichs (eine Republik) oder Großbritanniens (eine konstitutionelle Monarchie) durchzuführen. Es kam zwar immer wieder zu revolutionären Protesten, vom Wartburgfest 1817 über das Hambacher Fest 1832 bis zur sogenannten »deutschen Revolution« von 1848, die schnell in eine konservative Gegenrevolution mündete. Die feudal geprägte Struktur wurde immer so weit den ökonomischen und sozialen Wandlungsprozessen angepasst, dass sie nicht dauerhaft gefährdet wurde und sogar – mit den sogenannten Einigungskriegen Preußens von 1864 (gegen Dänemark, um Schleswig-Holstein), 1866 (gegen Österreich, um die Vorherrschaft im Deutschen Bund) und 1870/71 (gegen Frankreich) – in die Gründung des Zweiten deutschen Kaiserreichs mündete, als sogenannte »kleindeutsche Lösung« ohne das mittlerweile andere Interessen verfolgende Österreich (Doppelmonarchie Österreich- Ungarn seit 1867).
Diese politischen Zusammenhänge wirken sich auf die Literatur aus und umgekehrt – und dies kann in einem weitaus größeren Maß der Fall sein, als dies üblicherwei se bei der Lektüre von Literatur in Bildungskontexten (Schule, Universität) berücksichtigt wird. Das System Kunst ist zwar – so hat es Niklas Luhmann ausbuchstabiert (vgl. Luhmann 1997) – wie jedes Teilsystem der Gesellschaft autopoietisch und unterscheidet zwischen Kunst und Nichtkunst, es steht aber auch in enger Wechselwirkung mit den anderen Teilsystemen. Mit Pierre Bourdieu lässt sich von einer »paradoxen Beziehung zum geschichtlichen Erbe« (Bourdieu 2001, S.386) sprechen. Einerseits ist Literatur autonom, weil sie sich ihre eigenen Regeln gibt, andererseits entstehen diese neuen Regeln in einem komplexen Austausch mit früheren Texten und innerhalb eines politischen, sozialen, ökonomischen Kontexts der jeweiligen Zeit und Gesellschaft.
Da es an politischen Gestaltungsmöglichkeiten mangelte, konzentrierte sich das gebildete Bürgertum auf die weitere Ausformulierung einer »deutschen« Kultur. Dieses Selbstverständnis schloss zu dieser Zeit Österreich als mächtigsten Mitgliedsstaat noch mit ein. Im Übergang von einem (ebenfalls schriftlich basierten!) mündlichen Gedächtnis zu einem schriftlichen schufen deutschsprachige Autoren eine Nationalliteratur, die allerdings bis ins frühe 19. Jahrhundert (nicht zuletzt angesichts der fehlenden Aussicht auf politische Teilhabe) eher ein Konzept von »Weltliteratur« favorisierte, wie es Johann Wolfgang von Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann vertrat: als Gespräch über Literatur der an ihr Beteiligten und als »komplexes Beziehungssystem von Texten, das durch zahllose Verweise und Verknüpfungen zusammengehalten wird« (Lamping 2010, S. 62).
Das von Herder entwickelte, sehr offene und daher für unterschiedlichste Temperamente und Interessen adaptionsfähige Konzept der sogenannten »Volkspoesie« schuf bereits früh einen idealen Rahmen. Parallel zur Alphabetisierung und »ästhetischen Erziehung« des Bürgertums nach den Maximen von Friedrich Schiller, wurden Stoffe und Themen in einem »deutschen« Sinn bearbeitet. Hier wirkte die Aufklärung nach