Märchen. Группа авторов

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Schöpfungsmythos analog zur Bibel in der dritten Vigilie (lat. »Nachtwache«), also im dritten Kapitel erzählt wird. Dies geschieht mit einer gehörigen Portion (keineswegs nur romantischer) Ironie, die besonders auffällig wird, wenn die beiden »Welten « miteinander kollidieren, etwa nachdem der Archivarius von der Erschaffung von Atlantis erzählt hat:

      Erlauben Sie, das ist orientalischer Schwulst, werter Hr. Archivarius! sagte der Registrator Heerbrand, und wir baten denn doch, Sie sollten, wie Sie sonst wohl zu tun pflegen, uns etwas aus Ihrem höchstmerkwürdigen Leben, etwa von Ihren Reise-Abenteuern und zwar etwas wahrhaftiges erzählen.« Nun was denn, erwiderte der Archivarius Lindhorst: das, was ich so eben erzählt, ist das wahrhaftigste was ich Euch auftischen kann ihr Leute und gehört in gewisser Art auch zu meinem Leben. Denn ich stamme eben aus jenem Tale her und die Feuerlilie die zuletzt als Königin herrschte, ist meine Ur-ur-ur-urgroßmutter, weshalb ich denn auch eigentlich ein Prinz bin. Alle brachen in ein schallendes Gelächter aus. (Hoffmann 2006, S. 246 f.)

      Schon der Untertitel »Märchen aus der neuen Zeit« hat einen Dualismus etabliert, werden Märchen doch üblicherweise in einer (damals immer häufiger dem Mittelalter nachgebildeten) undatierbaren Vorzeit angesiedelt. Die Evozierung und Vereinigung des Gegensätzlichen, die paradoxale Struktur des Kunst- und Wirklichkeitsmärchens betrifft die beiden Ebenen Zeit und Raum. Dies wird auch in den Unterüberschriften der Vigilien deutlich, die realitätsbezogene und realitäts -erweiternde Wahrnehmung mischen: »Vierte Vigilie. Melancholie des Studenten Anselmus. – Der smaragdene Spiegel. – Wie der Archivarius Lindhorst als Stoßgeier davon flog und der Student Anselmus niemandem begegnete.« (Hoffmann 2006, S.250)

      Realitätsbezogen entworfene Figuren pflegen nicht davonzufliegen, erst recht nicht als Stoßgeier, und auch aus der Nachricht, die keine ist – dass Anselmus niemandem begegnete –, spricht die Ironie deutlich, denn sie ist es, die das vereinigende Prinzip darstellt. Nur im Modus der Ironie kann zusammenkommen, was im Text zusammengehört. Die hier bezeichnete Stelle des Davonfliegens gehört zu den Stellen, die meisterhaft den Übergang zwischen den Naturgesetzen folgenden und sie verlassenden Regeln gestalten, hier noch auf der Schwelle der Unsicherheit, ob Anselmus sich den Flug und die Verwandlung des Archivarius nur einbildet:

      Der Archivarius hatte dem Studenten Anselmus ein kleines Fläschchen mit einem goldgelben Liquor gegeben, und nun schritt er rasch von dannen, so, daß er in der tiefen Dämmerung, die unterdessen eingebrochen, mehr in das Tal hinabzuschweben als zu gehen schien. Schon war er in der Nähe des Koselschen Gartens, da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein Paar große Flügel in den Lüften flatterten und es dem Studenten Anselmus, der verwundrungsvoll dem Archivarius nachsah, vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittige aus zum raschen Fluge. – Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte, und er merkte nun wohl, daß das weiße Geflatter, was er noch immer für den davonschreitenden Archivarius gehalten, schon eben der Geier gewesen sein müsse, unerachtet er nicht begreifen konnte, wo denn der Archivarius mit einemmal hingeschwunden. (Hoffmann 2006, S. 257)

      Auch der Schluss, als sich der Erzähler selbst mit der Mitteilung in seine Erzählung einschaltet, er kenne den Schluss nicht, spricht Bände:

      Ich härmte mich recht ab, wenn ich die eilf Vigilien, die ich glücklich zu Stande gebracht, durchlief und nun dachte, daß es mir wohl niemals vergönnt sein werde die zwölfte als Schlußstein hinzuzufügen, denn so oft ich mich zur Nachtzeit hinsetzte, um das Werk zu vollenden, war es, als hielten mir recht tückische Geister (es mochten wohl Verwandte – vielleicht Cousins germains der getöteten Hexe sein) ein glänzend poliertes Metall vor, in dem ich mein Ich erblickte, blaß, übernächtig und melancholisch wie der Registrator Heerbrand nach dem Punsch-Rausch und nach allerlei Phrasen haschend um ein nie geschautes Eldorado zu malen. – Da warf ich denn die Feder hin und eilte ins Bette um wenigstens von dem glücklichen Anselmus und der holden Serpentina zu träumen. (Ebd., S. 316)

      Der Schluss bietet neben dem Traum und dem »angezündeten Arrak« (einem hochprozentigen Schnaps), den der nun autodiegetisch gewordene Erzähler beim Archivarius unter Umständen genießt, die ebenfalls nicht mit den Naturgesetzen vereinbar sind (vgl. Hoffmann 2006, S. 318), noch eine dritte, die Ironie übersteigende und alles transzendierende Deutung an, wenn der Archivarius den sich über sein eigenes, im Vergleich mit Anselmus trübes Schicksal beklagenden Erzähler wie folgt tröstet:

      »Still still Verehrter! klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht so eben selbst in Atlantis und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns? – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?« (Hoffmann 2006, S. 321)

      Es geht um das »Leben in der Poesie«, also um den Prozess der Lektüre selbst. Spätestens jedes erneute Lesen nach der Erstlektüre dürfte den goldnen Topf nun als metafiktionalen Text erscheinen lassen, als einen Text also, der nicht nur ein Märchen ist, sondern im Modus des Erzählens märchenhafter Begebenheiten auch den Konstruktionscharakter und den Sinn des Märchens wie aller Literatur – die Möglichkeiten der Alltagswahrnehmung durch die Kunst zu erweitern – zugleich im Erzählen vorführt.

      Diese Doppelcodierung hat Hoffmann im Titel dieser Sammlung als Fantasiestücke in Callot’s Manier und später, einer nicht weniger bekannten Sammlung ebenso einen (ent-)sprechenden Titel gebend, als »serapiontisches Prinzip« bezeichnet (vgl. Neuhaus 2017b, S. 146–153). Die Spuren dieses Konzepts werden in zahlreichen weiteren Kunst- und Wirklichkeitsmärchen zu finden sein, bis hin zu J.K. Rowlings Romanserie über den Zauberlehrling Harry Potter (ab 1997) und Walter Moers’ Zamonien-Romanen (ab 1999; vgl. Neuhaus 2017c, S. 391 ff. und 409 ff.). Selbstreflexivität und ihre Spielart Metafiktionalität (vgl. Mader 2017) werden mit und nach Hoffmann konstitutiv für die Literatur der Moderne und Postmoderne.

       3. Schlussfolgerungen

      Die Märchen der Brüder Grimm funktionieren auch heute noch, weil der kulturgeschichtliche Kontext ihrer Entstehung in der populären Rezeption konsequent ausgeblendet wird. Die Märchen E.T.A. Hoffmanns funktionieren auch heute noch, weil Hoffmann den kulturgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung weitgehend ausblendet. Zwar sind die Einflüsse der »Theorie der Romantik« (Uerlings 2000) evident, etwa in der Adaption des Konzepts des Goldenen Zeitalters. Doch entwickelt der vielseitige Künstler Hoffmann sein eigenes »autonomieästhetisches« (Heydebrand/Winko 1996, z. B. S. 33) Konzept, dessen Folgen kaum zu überblicken sind.

      Das scheinbar naive »Volksmärchen« mit seiner starken Schematisierung und deutlichen Mehrfachadressierung (an Leser*innen aller Altersgruppen und sozialer Herkünfte) hat wenig von seiner Attraktivität verloren, auch wenn manche Schemata in der Trivialkultur zum gängigen Muster geworden sind, etwa das Aschenputtel-Motiv: Junge und attraktive, sich ihrer erotischen Anziehungskraft nicht bewusste Frau wird von gutaussehendem und sozial deutlich höhergestelltem Mann (»Prinz«) geheiratet – und sie lebten glücklich bis an ihr gemeinsames Ende. Welchen Schaden dieses Muster in der Realität junger Frauen angerichtet hat und anrichtet, scheint angesichts fehlender Studien immer noch zu den großen Tabus unserer Kultur zu gehören. Andererseits kann die Beschäftigung gerade mit solchen scheinbar einfachen Texten wie den »Volksmärchen« dazu beitragen, die Faszination und Funktionsweise solcher Schemata besser zu verstehen.

      Die sich selbst als Literatur thematisierende und gestaltende Literatur, die im Modus der Ironie die Grenze von Fiktionsrealität und Fiktion transzendiert und damit auch die Grenze zur Realität perforiert, scheint hingegen imprägniert zu sein gegen äußere Einflüsse. Doch weil sie deutlich voraussetzungsreicher ist, wird sie immer eher ein elitäres Publikum anziehen. Es ist Aufgabe von Literaturvermittler*innen, die (im Falle Hoffmanns auch historische) Schwelle zu senken. Dann könnten gerade die Märchen E.T.A. Hoffmanns dazu dienen, die produktiven Möglichkeiten der Fiktion deutlicher wahrnehmbar zu machen und so die Produktivität der Fantasie der Leser*innen anzuregen. Nichts anderes hat beispielsweise Michael Ende in seinem metafiktionalen Märchenroman Die unendliche Geschichte (1979) versucht,


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