Märchen. Группа авторов
Читать онлайн книгу.und die Prinzessin zur Braut zugesprochen bekommt. Dass das Publikum dabei zeittypische, in den Theaterkritiken bezeugte Reaktionsmuster spiegelt, zeigt sich am Ende sowohl an der Rolle »Böttichers«, der als Karikatur auf den Weimarer Literaten Böttiger verfasst ist (Kreuzer 2019, S. 80), ebenso wie am Schlosser, der die Zensur wittert. Deshalb will er um keinen Preis an der lautstarken Zustimmung des Publikums teilhaben:
Schlosser: Doch also ein Revolutionsstück? – So sollte man doch um des Himmels willen nicht pochen. (Das Pochen dauert fort, Wiesener und manche andre klatschen, Hinze verkriecht sich in einen Winkel und geht endlich gar ab. – Der Dichter zankt sich hinter der Szene und tritt dann hervor.) (Tieck 2019, S.58)
Dass das Illusionstheater gar nicht gelingen will und auch nicht soll, ist in der Textstruktur angelegt: Diese setzt vielfach auf Distanzierung durch die subversive Reflexion des literarischen Mediums. Derlei Passagen lassen sich im Drama viele finden. Sie betreffen aber auch die Konventionen des Märchens selbst, insbesondere dessen Integration des »Wunderbaren« und – wie Zeller festgehalten hat, die »ständige[] Konfrontation von realer und wunderbarer Welt« (Zeller 1993, S. 72). Beispielsweise bezweifelt Gottlieb im Dritten Akt, dass sich sein Glück noch rechtzeitig vor dem Ende der Komödie einstellen werde (»Bald, sehr bald muss es kommen, sonst ist es zu spät, es ist schon halb acht und um acht ist die Komödie aus«; Tieck 2019, S.45). Auch fällt er aus der Rolle, wenn er den »verdammte[n] Souffleur« kritisiert, dieser spreche »so undeutlich, und wenn man dann manchmal extemporieren will, geht’s immer schief« (ebd.).
Dass der »wunderbare« Gehalt schließlich von Kater Hinze selbst bekräftigt und veranschaulicht werden muss, rückt die Gattung selbst in den Fokus, wenn er die gelaufene Strecke als unwahrscheinliche zu bedenken gibt:
Hinze: Wer etwas Wunderbares hören will, der höre mir jetzt zu. – Wie ich gelaufen bin! – Erstlich von dem königlichen Palast zu Gottlieb, zweitens mit Gottlieb nach dem Palast des Popanzes, wo ich ihn gelassen habe, drittens von da wieder zum König, viertens lauf ich nun vor dem Wagen des Königs wie ein Laufer her und zeige ihm den Weg. (Tieck 2019, S. 51)
Noch ein anderer Aspekt des unterschätzten »Kindermärchens« rückt mit dem ständigen Standortwechsel von intradiegetischer zu extra- bzw. metadiegetischer Handlung – sofern man die Ironie und Selbstreferentialität als weitere Rahmung begreift – in den Blick: das Nichtvorhandensein einer stringenten Positionierung Tiecks. »[D]ass Tieck keinen festen Standort im Stück bezieht, sondern ihn von Punkt zu Punkt wechselt, punktuell den ›Dichter‹ oder das ›Publikum‹ (oder Hanswurst, König usw.) für sich sprechen« lasse, wurde Kreuzer zufolge von der Forschun g zeitweise gar zum »Vorwurf der politischen ›Affirmation‹ zugespitzt« (Kreuzer 2019, S. 85). Tieck erschien in dieser Deutung als einer der von ihm selbst parodierten Zuschauer, der in der kleingeistigen Idylle seiner bürgerlichen Verhältnisse verharrt. Tatsächlich aber fördert die vielschichtige Anlage des Dramas die Erkenntnis zutage, dass dieses Kunstmärchen, gerade weil es im Modus der beständigen Selbst-Bezugnahme verfasst ist, höchst kritisch und auf unterhaltsame Weise seine Entstehungs- als auch Rezeptionsbedingungen stets mitreflektiert. Es muss LeserInnen und ZuschauerInnen der Gegenwart daher überraschend modern erscheinen.
1.3 Ritter Blaubart (Ludwig Tieck, 1797)
Wie schon beim Gestiefelten Kater entlehnt Ludwig Tieck auch den Stoff des Ritter Blaubart den Contes de ma mère l’Oye (1697), einer Märchensammlung von Charles Perrault. Die verbreitete Sage vom hässlichen Blaubart, der seine Ehefrauen zu töten und deren Leichen in einer von Blut getränkten Kammer zu verbergen pflegte, findet auch Eingang in Tiecks dramatisches Kunstmärchen, das er mit dem Untertitel: »Ein Ammenmärchen in vier Akten«, versieht. Damit verweist er bereits im Paratext auf die Tradition mündlicher Überlieferung und Rezeption der Märchen gerade durch Frauen (vgl. Zeller 1993, S. 57)5. In ihrer traditionellen Funktion als Erzieherinnen und primäre Bezugsperson von Kindern schlüpften sie gelegentlich in die Rolle der Erzählerinnen, um ihre Schützlinge zu besänftigen, aber eben auch: um sie vor drohenden Gefahren, seien es wahrscheinliche Gefahren oder eben auch vor mystischen Einbrüchen in die reale Welt zu warnen (qua Mangel besseren Wissens, befördert aber auch von einer an Eigenlogik gewinnenden, von mystifizierenden Elementen getragenen Erzähltradition).
Eingeführt wird das Schauspiel durch einen Prolog, der bereits das Leitmotiv des Schlüssels und des Aufschließens enthält. Dies »eröffnet« aus hermeneutischer Perspektive zudem eine weitere Dimension literarischer Texte: die des Verstehens als das Erschließen eines in ihnen verborgenen Sinns. Dabei richtet der Prolog die Aufmerksamkeit auf »[d]ie fernsten, wundervollsten Welten« (Tieck 2015, S.4), die vom »Zauberstab des Dichters« (ebd.) erschlossen würden; freilich mit der Anti-these, dass es eine »heimlich im Gebüsch versteckt[e] … Tür« (ebd.) noch zu entdecken gäbe, die zu öffnen dem Dichter vorbehalten sei.
Kern der Handlung ist denn auch ein Schlüsselbund, den Blaubart seiner Verlobten anvertraut, offenbar in der Absicht, sie auf eine Probe zu stellen. Von den Kammern, zu denen ihr die Schlüssel Zutritt verschaffen, stehen ihr sechs offen. Nur das siebte Zimmer, »das dieser goldene Schlüssel öffnet« (ebd.), soll ihr verboten sein. Dass Agnes schließlich ihrer Neugier nachgibt und die verbotene Kammer dennoch betritt, kann im Sinne Detlef Kremers zu Tiecks »Interesse für komplexe psychologische Konstellationen« gerechnet werden, »in denen einerseits eine differenzierte literarische Phänomenologie bürgerlicher Alltagswelt entsteht, andererseits eine wachsende Aufmerksamkeit für abweichende Verhaltensweisen und deren Psychogenese in individuellen Lebensgeschichten artikuliert wird« (Kremer 2011, S.498).
Im Unterschied zu den beiden bereits nach ihren protoromantischen Merkmalen untersuchten Kunstmärchen erscheint Ritter Blaubart jedoch mehr noch dem Modus spätaufklärerischen Erzählens verpflichtet, als sich in ihm keine eindeutigen Markierungen selbstreferentieller Bezugnahme erkennen lassen. Zwar ist auch anhand einiger parodistisch eingestreuter Dialogfetzen, die auf berühmte Philosophen verfasst sind, der Versuch der ironischen Rückkopplung an zeitgenössische Diskurse bemerkbar, beispielsweise an jenen der »Erfahrungsseelenkunde« (à la Karl Philipp Moritz)6 oder auch den der Frühromantik. So könnte man im sentimentalischen Grundton, den Bruder Simon anschlägt, sowohl das Reflexionsbedürfnis der Gebrüder Schlegel als auch Positionen des philosophischen Idealismus karikiert sehen, als er über die mangelnde Fähigkeit seiner Geschwister klagt, (selbst-)reflexiv zu denken:
Simon: Siehst du, jetzt versteht du mich gar nicht, weil du auf die Gedanken noch gar nicht gekommen bist. – Siehst du, ich denke, und mit dem Zeuge, womit ich denke, soll ich denken, wie dieses Zeug selbst beschaffen sei. Es ist pur unmöglich. Denn das, was denkt, kann nicht durch sich selbst gedacht werden. (Tieck 2015, S. 15)
Das Textverfahren dominiert jedoch im Blaubart, ähnlich wie im Gestiefelten Kater (abzüglich dessen vielschichtigen Panoramas) die Polyphonie der Figuren, in denen vielfach Gesellschaftstypen »gespiegelt« werden. Ob dieser »Spiegelung« eine ebensolche Brechung des konventionellen Märchens zukommt, wie sie die beiden anderen Kunstmärchen Tiecks demonstrieren, oder ob hier »lediglich« ein bekannter Stoff neu aufgelegt wird, muss an dieser Stelle offenbleiben. In der Thematisierung von innerweltlicher Kontingenz und der Unergründbarkeit menschlichen Daseins treten jedoch offensichtlich Aspekte auf, die Kremer als für die Spätaufklärung »charakteristisch« begreift. Allerdings könnte die Beobachtung, dass dem Drama eine hintergründige Ironie zu eigen ist, zumal es phantastische, schauerromantische Episoden in die Handlung integriert, Kremers Argument modifizieren. Ohnehin schloss dessen Behauptung, »daß der Großteil der Prosaarbeiten Tiecks bis etwa 1796/1797 formal wie thematisch der Spätaufklärung zuzuordnen und im Kern keineswegs als prä- oder protoromantisch zu verstehen« (Kremer 2011, S.496) sei, ja nicht im engeren Sinne auch die dramatischen Arbeiten mit ein (wenngleich Tieck das »Märchenspiel« Ritter Blaubart im Jahr seiner Entstehung auch noch in die Form einer Erzählung gießen sollte mit dem Titel Die sieben Weiber des Blaubart 7).