Die extreme Mitte. Tariq Ali

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Die extreme Mitte - Tariq  Ali


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      Ali/Flassbeck/Mausfeld/Streeck/Wahl

      Die extreme Mitte

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      © 2020 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

      Die Texte von Tariq Ali stammen aus dem Buch: The Extreme Centre, erschienen bei Verso 2018

       © Tariq Ali

      ISBN: 978-3-85371-884-1

      (ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-476-8)

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      Inhaltsverzeichnis

       Editorische Notiz

       Tariq Ali - Die Geburtsstunde der extremen Mitte

       Tariq Ali - Euroland in Schwierigkeiten

       Wolfgang Streeck - Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen: Die extreme Mitte als Klassenbasis des gescheiterten Konsolidierungsstaats

       Heiner Flassbeck - Europa und seine extreme Mitte

       Peter Wahl - Die extreme Mitte und der Fetisch Europa

       Rainer Mausfeld - Die neoliberale Mitte als demokratische Maske einer radikal antidemokratischen Gegenrevolution

       Autorenbiographien

      Die Texte von Tariq Ali sind dem Band »The Extreme Centre« entnommen, der 2018 auf Englisch in zweiter Auflage erschienen ist. Für die vorliegende Publikation wurden sie geringfügig aktualisiert. Die Übersetzung besorgte Ingrid von Heiseler, ihr sei herzlicher Dank dafür ausgesprochen.

      Alle anderen Beiträge in diesem Buch wurden im Frühjahr und Sommer 2020 verfasst. Auch ihren Autoren sei herzlichst gedankt.

      Wien, im August 2020, Stefan Kraft, Promedia Verlag

      Tariq Ali

      Die Geburtsstunde der extremen Mitte

      Was Amerikas zwei Geschwister britischer Abstammung betrifft, so hat Kanada die USA als neuen Elternteil adoptiert und passt sich entsprechend an; die australische Politik befindet sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls, seit der verstorbene Premierminister Gough Whitlam 1975 durch einen von London gelenkten Geheimdienstcoup abgesetzt wurde. Das Land hat sich nun mit beeindruckender Regelmäßigkeit auf die Batteriehaltung von Provinzpolitikern einer Provinz-Kaste spezialisiert. An all diesen Orten haben die Bürger etwas Besseres verdient.

      Als 1989 die Berliner Mauer fiel, brach nicht nur die Sowjetunion oder die »kommunistische Idee« oder die Effektivität der »sozialistischen Lösungen« zusammen. Auch die westeuropäische Sozialdemokratie ging zu Boden. Angesichts des triumphalen kapitalistischen Sturms, der über die Welt fegte, besaß sie weder Vision noch Entschlossenheit, Elemente ihrer eigenen ehemaligen Sozialprogramme zu verteidigen. Stattdessen entschloss sie sich zum Selbstmord. Das war das Gründungsmoment der extremen Mitte.

      Im Jahr 2000 regierten sozialdemokratische oder von ihnen beherrschte Koalitionen den größten Teil Westeuropas, Spanien ausgenommen. Die Erfahrung lehrte, dass keine dieser Parteien eine wirksame Politik liefern konnte, die die Lebensbedingungen der Mehrheit der Wähler, deren Stimmen sie an die Macht gebracht hatten, verbessert hätte. Der von seinem Sieg berauschte Kapitalismus, der von keiner Seite infrage gestellt wurde, hatte es nicht mehr nötig, seine linke Flanke zu schützen, indem er irgendwelche Reformen zugelassen hätte. Nicht einmal eine geringfügige Umverteilung des Reichtums zur Verringerung der Ungleichheiten stand noch auf der Tagesordnung.

      Unter diesen Umständen wurde die Sozialdemokratie überflüssig. Alles, was sie ihren traditionellen Unterstützern noch zu bieten hatte, war Angst oder eine leere ideologische Formel, deren Hauptfunktion es war, die Armut an jeglichen fortschrittlichen Ideen zu bemänteln: »dritter Weg«, »konfliktfreie Politik jenseits von links und rechts«. Das Nettoergebnis war entweder ein Wechsel der Wähler nach Rechtsaußen (wofür in Europa Österreich zum frühen Beispiel wurde) oder eine zunehmende Entfremdung von der Politik und dem gesamten demokratischen Prozess. In anderen Worten: eine zunehmende Amerikanisierung der europäischen Politik, die den Wählern die Wahl zwischen Pest und Cholera ließ – bei abnehmender Wahlbeteiligung. Da die Popkultur so stark atlantisiert worden war, konnte die Politik nicht zurückstehen. Nirgendwo in Westeuropa kapitulierte die sozialdemokratische Partei so bereitwillig und vollständig vor den Bedürfnissen des entfesselten Kapitalismus und der imperialen Kriege wie die Labour Party von Blair und Brown im Vereinigten Königreich.

      Die Nachfolger von Reagan und Thatcher waren und sind konfektionierte Politiker: Blair, Cameron, Obama, Conte, Macron und so weiter haben einen Autoritarismus gemeinsam, der das Kapital über die Bedürfnisse der Bürger stellt und die Macht der durch gewählte Parlamente abgesegneten Unternehmen stützt. Die neuen Politiker Europas und Amerikas bedeuten einen Bruch mit so gut wie jeder Form traditioneller Politik. Die neue Technologie hat es Cliquen oder Komitees viel leichter gemacht zu regieren.

      Sie sind in exklusive Bunker eingemauert, zu denen nur Bankiers und Geschäftsleute, unterwürfige Medienleute, ihre eigenen Ratgeber und Speichellecker verschiedenster Art Zugang haben. Sie leben in einer halb wirklichen, halb künstlichen Welt von Geld, Statistiken und Gesprächsgruppen. Ihr Kontakt mit realen Personen ist außerhalb der Wahlperioden verschwindend gering. Ihr öffentliches Auftreten besteht größtenteils in der lügnerischen Propaganda der Fernsehkanäle oder den Fototerminen, die manchmal völlig danebengehen. Sie weigern sich, sich zu den Menschen, deren Welten sie zerstört haben, herabzulassen und mit ihnen zu reden.

      Wenn sie an der Macht sind, neigen sie zum Verfolgungswahn, behandeln ernsthafte Kritik als Illoyalität und werden zunehmend abhängig von Imageberatern, die sich ihrerseits wie Berühmtheiten verhalten und sich auch so behandeln lassen. Da die politischen Unterschiede kaum wahrnehmbar sind, wird die Macht zum Selbstzweck und zu einem Mittel, Geld und, wenn die Politiker ihr Amt niedergelegt haben, gut bezahlte Beratungsfirmen zu erwerben. Heutzutage hat die Symbiose von Macht und Geld fast überall extreme Ausmaße erreicht. Die eingeschüchterten und fügsamen Politiker, die das System betreiben und sich reproduzieren, nenne ich die »extreme Mitte« der Mainstream-Politik in Europa und Nordamerika. Großbritannien war das erste Land in Europa, das den neuen Konsens einführte, der später mehr oder minder anderswo übernommen wurde, mit Schweden an der Spitze.

      Thatcher und ihre Nachfolger handelten mit der Wahlunterstützung von Teilen der traditionellen ArbeiterInnenklasse, besonders, aber nicht nur, in Mittelengland, und teilweise mit der Unterstützung durch die Einnahmen aus dem Öl, das an schottischen Küsten gefördert wurde. Der Konservatismus der Arbeiterklasse fehlte in England nie, nahm aber unter Thatcher rasch zu. Eine gespaltene Arbeiterklasse und ein undemokratisches Wahlsystem bildeten die Basis für Thatchers Demontage der Reformen von 1945. Sie stellte die Bedeutung von »Gesellschaft« infrage


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