Die kleine Trostapotheke. Anselm Grün
Читать онлайн книгу.darzulegen. Denn auch das würde wieder zu Angriffen führen.
Diese Art von Einsamkeit ist also letztlich selbst verursacht. Gerade im Alter tritt solches Verhalten vermehrt auf.
Was könnte ihm also helfen? Offene Erklärungen sind meistens vergeblich, weil sie abgewiesen werden. Es hilft nur, Fragen zu stellen. Solche Menschen sollten sich erst einmal fragen, wen sie eigentlich mögen. Wie beurteilen sie ihre Umgebung? Gibt es Menschen, mit denen sie gern Kontakt haben möchten? Wenn sie sich über jemanden geärgert haben, sollten sie einmal darüber nachdenken, ob nicht eine Verzeihung fällig wäre. Oft erwarten sie eine Entschuldigung. Ohne Entschuldigung wollen sie nicht verzeihen. Jesus hat uns ein anderes Beispiel gegeben: Er verzeiht, bevor jemand in Reue und Zerknirschung fällt. Durch diese Verzeihung ohne Vorbedingungen öffnen sich die Menschen und können seine Liebe wahrnehmen. Es würde so vielen Menschen guttun, wenn sie mehr verzeihen könnten und ihre Zuneigung zeigen würden.
Es ist erstaunlich, welche Bagatellen zu Beziehungsabbrüchen führen. In unseren Missionsklöstern lebten die Missionare in unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Es gab das große zentrale Kloster und die vielen Pfarreien in der Umgebung. Einige Male im Jahr kamen alle im Kloster zusammen, wenn ein Fest gefeiert wurde oder wenn wichtige Beschlüsse zu fassen waren. In der Zwischenzeit waren die Missionare auf den Außenstationen oft alleingelassen. Einer von ihnen kam nur wenige Tage nach dem letzten Treffen wieder ins Kloster, weil er etwas vergessen hatte. Als der Abt ihn sah, sagte er: »Du bist aber oft hier!« Wahrscheinlich hatte der Abt sich keine großen Gedanken zu dieser Bemerkung gemacht. Der Missionar war aber so getroffen und verärgert, dass er mehrere Jahre lang nicht mehr in die Abtei ging. Bis ins hohe Alter klagte er über diesen Vorfall. Die Einsamkeit war der Preis.
Warum fällt es vielen Menschen so schwer zu verzeihen, obwohl so Zusammenleben erst möglich wird? Die Verzeihung ist ein wirkliches Medikament in unserer Trostapotheke. Sie ist auch keine bittere Medizin, wie manche meinen. Sie muss nur auf Dauer eingenommen werden. Jesus sagt, dass wir sieben Mal sieben Mal verzeihen sollen – und das an jedem Tag. Es geht also um eine Grundhaltung.
Einsamkeit wird oft auch durch äußere Umstände ausgelöst. Jemand zieht in eine fremde Stadt, weil er einen neuen Arbeitsplatz bekommen hat. Das kann eine sehr schwierige Zeit werden. Zu allererst brauchen wir Geduld. Neue Bekanntschaften ergeben sich nicht in Sekunden. Trauen wir uns doch zu, Menschen kennenzulernen! Dazu gehört auch eine aktive Freizeitgestaltung. Jeder Mensch hat Vorlieben. Diese Lieben sollten wir pflegen, weil sie zu Kontakten mit anderen führen, die ähnliche Vorlieben haben. Dann kann Gedankenaustausch und gemeinsames Handeln die Einsamkeit beenden.
Bedrückender ist die Einsamkeit für ältere und hochbetagte Menschen, denen Bekannte und Verwandte wegsterben. Meine Großmutter wurde 90 Jahre alt. Ein paar Jahre zuvor erzählte sie mir, sie habe ausgerechnet, dass fünfzig ihrer Bekannten bereits gestorben waren. Sie war aber eine fromme Frau und ging täglich zum Gottesdienst. Das half ihr, diese Zeit zu bewältigen. Wer also alt wird, muss sich dieser Realität stellen, Menschen zu verlieren, weil sie eher sterben als man selbst.
In unserer Zeit erreichen sehr viele ein hohes Alter. Da wäre es wichtig, Kontakt zu Jüngeren zu haben, die man nicht so leicht überlebt. Menschen von heute haben oft niemanden, der ihnen zuhört. Das wäre die eigentliche Aufgabe vieler Älterer, sich als Hörer zur Verfügung zu stellen. Leider erzählen viele lieber über ihr eigenes Leben. Doch viele Menschen sind sich nicht bewusst, dass ihr Leben so verlaufen ist wie das vieler anderer auch. Es ginge also darum, eine Haltung des Hörens zu entwickeln, die im Alter dann auch zur Verfügung steht.
Was wäre das für ein Segen für junge Menschen, wenn sie mit jemandem reden könnten, der keine negativen Kommentare abliefert. Ältere könnten aus ihrer Lebenserfahrung heraus Gelassenheit vermitteln und Mut machen. Ich selbst spreche äußerst gern mit jungen Menschen. Immer wieder bin ich erstaunt, wie sie auch heute über vieles nachdenken und ihr Leben in die Hand nehmen wollen. Für die Älteren wäre damit die Einsamkeit beendet. Zuhören ist das große Geheimnis der menschlichen Begegnung.
Wenn ich traurig bin
Anselm Grün
Ich bin traurig, wenn mich ein Freund enttäuscht, wenn er sich nicht mehr meldet oder mein Vertrauen missbraucht hat. Ich bin traurig, wenn ich über mich selbst enttäuscht bin. Ich habe gedacht, dass ich an mir gearbeitet habe, ein reifer Mensch zu werden. Jetzt spüre ich kleinkariertes Denken, Feigheit und Konfliktscheue. Ich bin nicht so weit, wie ich kommen wollte. Das macht mich traurig. Ich bin traurig, wenn ich von der Krankheit eines lieben Freundes höre oder wenn ein lieber Mensch stirbt. Manchmal bin ich auch traurig und kann gar nicht erklären, warum. Ich spüre einfach Trauer in mir. Manche sagen dann, das Wetter mache traurig, vor allem im November, wenn es neblig und oft sehr dunkel ist.
Evagrius Ponticus hat die Traurigkeit bei den Mönchen analysiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass oft infantile Wünsche, die nicht in Erfüllung gehen, der Grund für ihre Traurigkeit sind. Er unterscheidet zudem Trauer (penthos) von Traurigkeit (lype). Trauern ist etwas Aktives. Ich betrauere den Tod eines lieben Menschen, das Zerbrechen eines Lebenstraums oder das Verpassen einer Chance, die mir neue Türen geöffnet hätte. Betrauern heißt auch: Verabschieden des Vergangenen und Jasagen zu meinem jetzigen Zustand. Wenn ich meine eigene Durchschnittlichkeit betrauere, heißt das: ich verabschiede mich von den Illusionen, die ich mir von mir gemacht habe. Traurigkeit verbindet Evagrius mit Selbstmitleid: Ich bedauere mich selbst, dass das Leben nicht so schön ist, dass die Hoffnungen, die ich für mich und mein Leben hatte, keine Wirklichkeit geworden sind. Ich jammere wie ein kleines Kind, dass Gott oder das Schicksal meine Wünsche nicht erfüllt hat. Ich sehe dann alles durch meine traurige Brille, alles kommt mir so trist vor. Ich kann diese traurige Stimmung ganz schlecht aushalten. Aber ich finde auch keinen Weg, mich von ihr zu lösen.
Jesus Sirach, der Weisheitslehrer des Alten Testaments, der jüdische mit griechischer Denkweise verbindet, weiß um die krankmachende Wirkung der Traurigkeit: »Aus Kummer entsteht Unheil; denn ein trauriges Herz bricht die Kraft« (Jesus Sirach 38,18). Traurigkeit tut nicht gut, es raubt uns alle Kraft. Evagrius meint, wir sollen betrauern, dass wir nicht so ideal sind, wie wir es gerne wären. Dann können wir Ja sagen zu uns, so, wie wir sind.
Viele reagieren jedoch nicht mit Betrauern, sondern sie trauern ihren Illusionen nach, und dieses Nachtrauern raubt ihnen alle Energie. Manche werden traurig, weil sie große Pläne haben, aber nicht die Kraft, sie in die Tat umzusetzen. So geht es dem reichen Jüngling im Neuen Testament, der voller Begeisterung Jesus nachfolgen möchte. Aber als dieser ihm zutraut, dass er in seine wahre Gestalt kommt, wenn er auf seinen Besitz verzichtet, da ging er »traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen« (Markus 10,22). Die Traurigkeit lähmt den jungen Mann, das zu tun, was sein Herz als seinen Weg in die Freiheit und Lebendigkeit erkannt hat.
Traurig werden Menschen, wenn sie Abschied nehmen müssen. Sie bleiben traurig zurück, wenn der andere eine längere Reise macht. Und noch trauriger sind sie, wenn jemand für immer Abschied nimmt. Viele können damit nicht umgehen. Sie verdrängen die Trauer und flüchten in die Arbeit. Jesus zeigt uns einen Weg, wie es gelingen kann. Er sagt zu seinen Jüngern, die traurig werden, weil er ihnen verkündet hat, dass er von ihnen gehen wird: »Noch kurze Zeit, dann seht ihr mich nicht mehr, und wieder eine kurze Zeit, dann werdet ihr mich sehen. Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln. Wenn die Frau gebären soll, ist sie bekümmert, weil ihre Stunde da ist; aber wenn sie das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an ihre Not über der Freude, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. So seid auch ihr jetzt bekümmert, aber ich werde euch wiedersehen; dann wird euer Herz sich freuen, und niemand nimmt euch eure Freude« (Johannes 16,19–22). Im Griechischen steht hier immer das Wort lype, »Traurigkeit«: Jesus wird den Jüngern ihre Traurigkeit nehmen, wenn er wiederkommt und sie die Gemeinschaft mit ihm erfahren. Die Wiederkunft Jesu bezieht sich nicht nur auf unseren Tod, in dem wir Jesus wiedersehen, und auch nicht nur auf die endgültige Wiederkunft Jesu am Ende der Welt. Vielmehr erleben wir die Verwandlung der Traurigkeit in Freude, wenn wir heute, hier und jetzt, die Nähe Jesu spüren. Seine Nähe wird in uns eine Freude hervorrufen, die uns niemand mehr nehmen kann.
Manche