Unter den Narben (Darwin's Failure 2). Madeleine Puljic

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Unter den Narben (Darwin's Failure 2) - Madeleine Puljic


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      »Was meinst du?« Jetzt, da sie sich endlich seinen körperlichen Bedürfnissen zu widmen begann, hatte er noch weniger Interesse an diesem Gerede.

      Sie sah zu ihm auf. Die blassen Narben in ihrem Gesicht zuckten im schwachen Licht der Lampen. Sie verliehen ihrem Lächeln einen Hauch von Wahnsinn. »Glaubst du, ich weiß nicht, an wen du nachts denkst?«

      »Ich denke an niemanden.« Zumindest versuchte er das.

      »Natürlich. Du hast auch niemandem eine Blüte ins Fenster gesteckt.«

      Schlagartig hatte sie seine Aufmerksamkeit. »Was?«

      Es gab nur eine Blume, die er verschenkt hatte, und das hatte er in aller Heimlichkeit getan. Davon war er bis jetzt jedenfalls überzeugt gewesen. Er packte Ariat am Handgelenk.

      »Woher weißt du davon? Bist du mir etwa gefolgt?« Er durchforschte seine Erinnerung, ob sie zu jener Zeit schon aufdringlich geworden war, aber die Wut hinderte ihn daran, seine Gedanken zu ordnen.

      »Oh, keine Angst. Ich bin nicht eifersüchtig … Sie hätte ohnehin nichts damit angefangen.«

      Hätte? Sein Griff wurde eisern, doch das Lächeln blieb unverändert auf Ariats Lippen. Selbst dann, als er sie grob auf Augenhöhe riss.

      Diese Blüte war sein Abschiedsgeschenk an Sianna gewesen – seine Frau, sein früheres Leben. Sie war der einzige Mensch, der ihm je etwas bedeutet hatte, und er hatte nie eine Gelegenheit bekommen, sich von ihr zu verabschieden. Die Blüte war alles gewesen, was er ihr hatte geben können. Eine Entschuldigung, ein Lebwohl, ein guter Wunsch für die Zukunft. Etwas Schönes und Einzigartiges, das ihr Freude schenken sollte … Dieser Gedanke hatte ihm Halt gegeben, wenn die Schuldgefühle und Zweifel übermächtig geworden waren. Und nun sollte sie sein Geschenk nie bekommen haben?

      »Was hast du damit gemacht?« Jedes Wort brannte wie Feuer in seinen Eingeweiden, doch Ariat blieb unbeeindruckt.

      »Wieso regst du dich so auf?«, erwiderte sie kühl. »Es ist ja nicht so, als hättest du ihr die Blüte persönlich gegeben. Hattest du Angst, was sie zu deinen Narben sagen würde?«

      »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst!«

      In Wahrheit kam Ariat seinen Befürchtungen weit näher, als er sich eingestehen wollte. Hatte ihn nicht der Gedanke von Sianna ferngehalten, dass sie bei den Puristen, als Teil seines neuen Lebens, kein Glück finden würde? Dass sie ohne ihn an der Welt festhalten konnte, die alles war, was sie kannte? Dass er es nicht ertragen hätte, wenn sie auf seinen Anblick mit Furcht und Abscheu reagiert hätte?

      Geschickt nutzte Ariat seine Unachtsamkeit und machte sich von ihm los.

      »Wo willst du hin?«, fragte er.

      Ihre Gestalt hob sich dunkel gegen das Licht ab. Trotzdem sah er deutlich die Schnitte auf ihrem Rücken, die er auf ihren Wunsch dort hinterlassen hatte. Sie sahen entzündet aus – durch Xenos’ Verschwinden war ihnen auch der einzige Arzt abhandengekommen, den die Puristen besaßen. Noch so ein Problem, für das er keine Lösung hatte.

      »Du denkst, ich weiß nicht, wovon ich spreche?«, fragte sie. »Ich weiß jedenfalls, dass du sie zurückgelassen hast. Du hättest sie längst zu uns holen können, aber das hast du nicht. Stattdessen kommst du zu mir. Und das immer wieder.«

      Mit flinken Fingern haschte sie nach ihren Kleidern. Haron kam ihr zuvor. Er sprang auf und drückte sie grob an die raue Felswand. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Er fühlte die Muskeln in seinen angespannten Kiefern zucken. Unbändige Wut tobte in ihm. Über ihren Ungehorsam, ihre dreiste Hinterlistigkeit … Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Griff lösen.

      Statt ihr den schmalen Hals umzudrehen, nahm er ihre Kleider und stieß ihr damit vor die Brust. »Raus mit dir.«

      »Bist du verrückt? Das ist mein Zimmer!«

      Als ob ihn das im Augenblick kümmern würde. Er packte sie grob an der Schulter. Nackt, wie sie war, schob er sie durch den Vorhang, der als Abdeckung ihrer Wohnnische diente. Hinaus in das Tunnelgewirr der Unterstadt.

      Sianna

      Ein stetes, ohrenbetäubendes Hämmern dröhnte durch die Fabrikhalle. Staub und Ruß hingen in der Luft, so dicht, dass Sianna kaum atmen konnte. Es brannte in den Augen, verklebte ihre Lunge. Aber niemand sonst schien sich daran zu stören. Also unterdrückte sie den Hustenreiz und nahm ihren Platz an dem Fließband ein, das die Lagerhalle in mehrere Bereiche zerteilte. Schwäche zu zeigen beendete in den Fabriken leicht ein Leben. Es war ihr erster Tag hier, auf keinen Fall wollte sie auffallen.

      Hoch über ihr stampften die Maschinen einen beunruhigenden Rhythmus. Sie versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn der metallene Arm direkt neben ihr herniederfuhr und sich in den Schutt grub, den die Arbeiter auf den Bändern sortierten. Sianna rief sich in Erinnerung, dass diese Fabrik nicht gefährlicher war als ihre letzte. Ihr würde nichts geschehen, solange sie sich aus der Reichweite der Mahlwerke fernhielt.

      Wenn nur das Zittern in ihren Händen nicht gewesen wäre.

      Mühsam suchte sie brauchbare Beton-und Stahlstücke aus dem vorbeiziehenden Geröll heraus, damit sie für den Bau neuer Gebäude wiederverwendet werden konnten. Mit jedem Brocken sah sie ein Unglück unvermeidlich näherkommen. Es fiel ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie die herabfahrenden Hebel ihre ungeschickten Finger zermalmten. Nicht, nachdem Haron dasselbe widerfahren war – und er hatte jahrelang an der Maschine gearbeitet, die ihm den Arm zertrümmert hatte.

      Bei den Gedanken an ihren Mann wurde das Zittern schlimmer, also verscheuchte sie die Erinnerung. Es war egal, wie oft sie sich fragte, was aus ihm geworden war. Sie würde keine Antwort finden. Die Klinik, in der er nach seinem Unfall behandelt worden war, hatte ihr nach seinem Verschwinden kommentarlos eine Rechnung ausgestellt. Die hatte nahezu den gesamten Betrag verschlungen, den Sianna für den N4-Gutschein erhalten hatte. Sie hatte das Leben ihres Mannes mit ihrem ungezeugten Kind erkauft, mit dem Traum von einer besseren Zukunft. Und er hatte sie verlassen.

      Sie wusste, dass er es für sie getan hatte. Hätte sein Aufenthalt im Krankenhaus nur ein paar Tage länger gedauert, wäre ihr gar nichts geblieben. Noch eine Woche, und die Schulden hätten begonnen. Schulden, die sie niemals hätte zurückzahlen können. Doch ihr Herz wollte von Verständnis nichts wissen, und mit einem gewissen Trotz hielt sie an ihrer Wut fest. Nach all dem Schmerz, nach der Angst und der Verzweiflung, war ihr Zorn das Einzige, an das sie sich noch klammern konnte. Denn das Geld hatte nicht lange gereicht.

      Mit ihrem Lohn allein konnte sie sich keine richtige Wohnung leisten. Eine Weile lang hatte sie den Vermieter noch auf andere Weise bezahlen können, aber der war ihrer rasch überdrüssig geworden. Mit den Worten, dass er an jeder Ecke billigere Mädchen haben konnte, hatte er sie vor die Tür gesetzt.

      Da hatte die Angst erst richtig begonnen.

      An leerstehenden Gebäuden mangelte es Noryak nicht. Überall fand man billig gebaute Häuser, die zu wenig brauchbares Material enthielten, um einen Abriss zu rechtfertigen. Es waren allerdings kaum mehr als Ruinen, die irgendwann von selbst zusammenfielen.

      Was Sianna jedoch wirklich fürchtete, waren die Nächte.

      Die Nächte, in denen das Feuer wütete. In denen Schreie hallten und Leute starben.

      Seitdem die Aufstände tobten, war das Leben unerträglich geworden. Lebensmittel waren unerschwinglich, für einen Wochenlohn erhielt sie gerade einmal einen Laib Brot und eine Dose Fleisch. Und wer sich zur Arbeit wagte, lief auch noch Gefahr, von vermummten Wahnsinnigen attackiert zu werden.

      Haron hätte sie vor diesen Verrückten beschützt, doch Sianna machte sich wenig vor. Sie hatte den Zustand gesehen, in dem er an jenem Tag aus dem Krankenhaus geflohen war. Allein konnte er nicht lange überlebt haben, und Hilfe hätte er niemals angenommen.

      Sein Stolz hatte sie oft geärgert, aber wenn man sich ansah, wie die Welt inzwischen geworden war, war es vielleicht besser …

      »Was ist los mit dir, Neue?«, höhnte eine raue Stimme


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