Unter den Narben (Darwin's Failure 2). Madeleine Puljic

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Unter den Narben (Darwin's Failure 2) - Madeleine Puljic


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Hände auf ihr Gesäß und schoben sie gegen das Fließband. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht krachte der Metallarm herab, zerbrach den Beton und legte den wertvollen Stahl darin frei. Ihr Körper bebte, bei jedem noch so vorhersehbaren Knirschen der Maschine krampfte sich alles in ihr zusammen.

      »Du bist zum Arbeiten hier, also schlaf nicht ein! Oder muss man dir etwa erst zeigen, wie man richtig zupackt?«

      Jemand lachte. Sianna kniff die Augen zu, als der Metallklotz ein weiteres Mal herabstieß. Sie fühlte seine Wucht bis in ihre Knochen hinein vibrieren. Unsinnigerweise war ihr einziger Gedanke, dass sie ihren Overall nicht vollbluten durfte, wenn sie unter die Maschine geriet. Es war der letzte Besitz, den sie noch hatte. Auch wenn jeder Arbeiter einen von seiner Fabrik zur Verfügung gestellt bekam – ihr Exemplar war noch neu, und brauchbare Kleidung war auf dem Schwarzmarkt immer etwas wert.

      Statt sie jedoch endgültig auf das Fließband zu befördern, lockerte der Schichtleiter seinen Griff.

      »Wenn du deine Stelle behalten willst«, flüsterte er ihr zu, »dann solltest du heute ein paar Überstunden dranhängen.«

      Als sie sich am Abend in ihre schäbige Bleibe schleppte, hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, den Tumulten aus dem Weg zu gehen. Ringsum brannten Müllberge und Fahrzeuge, die Straßen waren übersät mit Schutt und zersplittertem Glas. Sianna setzte einen Fuß vor den anderen. Zu mehr war sie nicht in der Lage. Sie zuckte kaum zusammen, als hinter ihr eine Fassade explodierte. Betonbrocken prasselten zu Boden, doch das alles waren nur Hintergrundgeräusche. Die Welt war dumpf und grau.

      Sianna taumelte zwischen den Aufständischen hindurch. Die johlenden Puristen schenkten ihr ebenso wenig Beachtung wie der wütende Mob von Arbeitern, der sich ihnen entgegenstellte. Jede Gruppe hielt sie für eine der ihren. Es kümmerte sie nicht mehr. Ohne aufzublicken, folgte sie den enger werdenden Gassen, bis sie sich schließlich an einem Müllberg vorbeizwängte. Der stinkende Haufen Abfall bildete die einzige Tür, die das Haus besaß, in dem sie Zuflucht gefunden hatte.

      Sianna fühlte sich wund und leer. Vielleicht würde sie den nächsten Morgen nicht erleben. Einzuschlafen und einfach nicht mehr aufzuwachen … Was für ein tröstlicher Gedanke.

      Aber sie wusste es besser. Morgen würde bloß ein weiterer Tag sein, und sie würde ihn nur auf dieselbe Art überstehen, wie sie den heutigen hinter sich gebracht hatte.

      Auf den allgegenwärtigen Bildschirmen, von denen man selbst in der Metro und in den Fabriken nicht verschont wurde, hatte es geklungen wie ein Versprechen. Tagelang hatten die Nachrichten das Unglaubliche verkündet: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten waren Arbeiter nicht im Überfluss vorhanden. Höhere Löhne für jeden, der zur Schicht erschien. Nicht in Siannas alter Anstellung, Textilien hatten in Zeiten wie diesen keine Priorität. Aber unweit heuerte eine Baufirma neue Leute an.

      Sianna hatte es für ein Zeichen gehalten, dass es doch noch Hoffnung gab für sie. Die Chance auf eine bessere Zukunft, ohne Hunger und Angst. Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr geschundener Unterleib unwillkürlich zusammen. Sie presste eine Hand an ihren Bauch. Auf die Narbe, die Haron an ihrem letzten gemeinsamen Abend geküsst hatte.

      Mit dem Zuschuss für ein auch nur geringfügig optimiertes Kind hätten sie ein neues Leben beginnen können, einen Schritt aus der Armut heraus. Aber das Schicksal hatte sich gegen sie gewandt. Erst Harons Unfall, und dann … Selbst wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, den Gutschein zu verkaufen, und die DNS-Entnahme zustande gekommen wäre – mittlerweile lag das Center in Schutt und Asche.

      Sianna sank auf die fleckige Matratze, die ihr als Bett diente. Müde schob sie die Arme um ihre Schultern und umklammerte ihren Körper. Für sie würde es kein Kind geben, und das war gut so. Jemand ohne Optimierung konnte bestenfalls in den Fabriken enden. Zu so einem Leben wollte sie niemanden verdammen. Sie wollte es nicht einmal selbst leben.

      Ihr fehlte nur der Mut, etwas daran zu ändern.

      Atlan

      Er sah in die Gesichter der Gläubigen, die sich auf den Bänken seines Gebetshauses eingefunden hatten. Sie waren müde und abgezehrt. Und mit jeder Messe wurden es weniger.

      Sie waren hungrig, suchten Rat und Trost. Nichts davon konnte er ihnen geben. Die Spenden, die er und die anderen Priester früher an die Unterschicht verteilt hatten, waren bereits vor Wochen versiegt. Atlan verteilte, was er in besseren Zeiten zurückgelegt hatte, aber seine Vorräte gingen zur Neige. Niemand konnte etwas entbehren. Alle hungerten sie, brauchten … Und er hatte nichts als leere Worte für sie. Was sollte er ihnen sagen? Dass sich alles zum Guten wenden würde, dass sie nur durchhalten mussten?

      Die Frau rechts vorne in der zweiten Reihe hatte ihren Mann in den nächtlichen Feuern verloren. Der Arbeiter hinter ihr seinen Sohn, weil der zur Schicht in einer der Fabriken angetreten war. Würde sich irgendetwas daran wieder zum Guten wenden? Nein. Nicht einmal den Trost eines besseren Lebens nach dem Tod konnte er den Hinterbliebenen geben. Davon sprach nur der alte, vergessene Glaube. Über Noryak wachte nur ein Gott: der Enttäuschte, der sich von der Menschheit abgewandt hatte und nur noch ein strafendes Auge auf die Menschen richtete.

      Für Atlan fühlte es sich so an, als hätte Gott nun auch dieses letzte Auge vor den Taten seiner Schöpfung geschlossen. Was also sollte er diesen Leuten sagen? Alle Worte fühlten sich fahl und unbedeutend an. Lügen, nichts weiter.

      Er wünschte, er hätte den Hass in sich, der in anderen Gebetshäusern gepredigt wurde. Hass auf die Klone, die Schuld waren an allem. Hass auf die Puristen, die den Krieg gebracht hatten. Doch er war zu sehr zwischen den Fronten gefangen. Er hatte eine Klonin geliebt und sie durch die Hände der Puristen auf grausame Art verloren. Die Puristen wiederum … Sie waren nicht alle schlecht. Das konnten sie nicht sein.

      Füße schabten über den abgenutzten Fliesenboden. Wie lange hatte er seine Gemeinde nun bereits wortlos angestarrt? Zu lange jedenfalls.

      Doch immer noch zögerte er. War es Hass, den sie hören wollten? Bisher hatte er in seinen Predigten von Vergebung und Nächstenliebe gesprochen und ihre Herzen damit erreicht. Aber seit der Krieg begonnen hatte, verlor er sie. An das Feuer, an die Kugeln … und an andere Priester, die ihre Wut und ihren Schmerz nicht abwiegelten, sondern rechtfertigten.

      War es das, was die Menschen brauchten? Jemanden, der sie in ihrem Zorn bekräftigte und ihnen das schlechte Gewissen nahm, wenn sie ihre Menschlichkeit vergessen und zu einem weiteren Rädchen in der gewaltigen Maschine dieses unglückseligen Krieges werden wollten?

      Nein, nicht seine Anhänger. Sie waren ihm treu geblieben, gerade weil er nicht demselben Pfad folgte wie andere. Weil sie nicht dem Hass verfallen wollten. Sie brauchten ihn als Stütze.

      Viele von ihnen hatten Niove gekannt, sie als eine der ihren gesehen, ohne zu ahnen, dass ihre Gene nichts Natürliches an sich hatten. Sie hatten den Menschen in Niove gesehen. Klon, optimiert, natürlich, Purist – das alles waren nur Facetten ein und derselben Spezies. Er würde keinen Hass gegen eine davon predigen.

      Entschlossen straffte Atlan die Schultern. Er räusperte sich, und das unruhige Schaben verstummte.

      »Ich danke euch für euer Kommen«, begann er. »Gerade in diesen Tagen ist es schwer, sich nicht von der Gewalt vereinnahmen zu lassen, die unsere Leben bestimmt, jetzt mehr denn je. Den Mut nicht zu verlieren. Ein Opfer zu sein, während unsere Nachbarn, unsere Freunde zu Tätern werden. Aber ihr seid keine Opfer.«

      Verwirrte, unglückliche Mienen bei seinen Gläubigen. Sie begriffen nicht, worauf er hinauswollte. Atlan war von seinen Worten selbst überrascht. Sie entsprachen nicht dem Ton seiner üblichen Reden. Doch nun, da er sie einmal gefunden hatte, sprudelten sie unaufhaltsam aus ihm hervor.

      »Damit meine ich nicht, dass ihr euch zur Wehr setzen sollt. Das Letzte, was Noryak braucht, ist noch mehr Wut und Tod. Wer sich aus freien Stücken an den Kämpfen beteiligt, die unsere Stadt heimsuchen, ist nicht besser als jene, die sie angezettelt haben. Aber ihr müsst es auch nicht still erdulden, wenn man euch bedroht. Wenn man euch eure Liebsten nimmt. Wenn man euch Nahrung und Sicherheit nehmen will. Ihr müsst nicht die andere Wange hinhalten.«

      Ein


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