Die Memoiren des Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle

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Die Memoiren des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle


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am Start ist, wenn die Flagge fällt.

      Dieser Tatsache war man sich in King's Pyland, wo der Trainingsstall des Colonel liegt, natürlich bewußt. Jede Vorsichtsmaßnahme wurde ergriffen, um den Favoriten zu beschützen. Der Trainer, John Straker, ist ein ehemaliger Jockey, der für Colonel Ross' Farben geritten ist, ehe er für die Waage zu schwer wurde. Er hat dem Colonel fünf Jahre als Jockey und sieben als Trainer gedient und sich stets als diensteifriger und ehrlicher Angestellter erwiesen. Ihm waren drei Burschen unterstellt, denn die Anlage ist klein und umfaßt insgesamt nur vier Pferde. Einer dieser Burschen wachte jede Nacht im Stall, während die anderen auf dem Futterboden schliefen. Alle drei haben einen ausgezeichneten Leumund. John Straker, der verheiratet ist, wohnte in einem kleinen Haus etwa zweihundert Yards von den Ställen entfernt. Er hat keine Kinder, beschäftigt ein Hausmädchen und ist leidlich gut gestellt. Das umliegende Land ist sehr einsam, aber eine halbe Meile weiter nördlich liegt eine kleine Gruppe von Landhäusern, die ein Unternehmer aus Tavistock gebaut hat für Gebrechliche und andere, die die reine Luft von Dartmoor genießen wollen. Tavistock selbst liegt zwei Meilen westlich, und jenseits des Moores, gleichfalls etwa zwei Meilen entfernt, befindet sich das größere Trainingsgelände von Capleton, das Lord Backwater gehört und von Silas Brown geleitet wird. Nach jeder anderen Richtung ist das Moor eine einzige Wildnis, bewohnt nur von einigen umherstreifenden Zigeunern. Das war die allgemeine Lage vergangenen Montagabend, als sich die Katastrophe ereignete.

      An diesem Nachmittag waren die Pferde wie gewöhnlich bewegt und getränkt worden, und die Ställe wurden um neun Uhr verschlossen. Zwei der Burschen gingen zum Haus des Trainers hinüber, wo sie in der Küche zu Abend aßen, während der dritte, Ned Hunter, auf Wache blieb. Ein paar Minuten nach neun brachte ihm das Mädchen, Edith Baxter, sein Abendessen, das aus einem Currygericht mit Hammelfleisch bestand. Sie nahm kein Getränk mit, denn im Stall befindet sich ein Wasserhahn, und es war Vorschrift, daß der diensthabende Bursche nichts anderes trinken durfte. Das Mädchen nahm eine Laterne mit, da es sehr dunkel war und der Weg über offenes Moorgelände verläuft.

      Edith Baxter war noch etwa dreißig Yards vom Stall entfernt, als aus der Dunkelheit ein Mann auftauchte und sie anrief, stehenzubleiben. Als er in den von der Laterne geworfenen, gelben Lichtkreis trat, sah sie, daß er das Auftreten eines Gentleman hatte und mit einem grauen Tweedanzug und einer Tuchmütze bekleidet war. Er trug Gamaschen und hatte einen schweren Stock mit Knauf. Am meisten beeindruckte sie jedoch sein überaus bleiches Gesicht und sein nervöses Gebaren. Sein Alter, glaubte sie, liege wohl eher über als unter dreißig.

      ›Können Sie mir sagen, wo ich bin?‹ fragte er. ›Ich hatte mich schon fast entschlossen, im Moor zu schlafen, als ich das Licht Ihrer Laterne sah.‹

      ›Sie sind bei den Trainingsställen von King's Pyland‹, sagte sie.

      ›Ach, tatsächlich! Was für ein Glückstreffer!‹ rief er aus. ›Wie ich höre, schläft dort jede Nacht ein Stallbursche allein. Sie bringen ihm wohl gerade sein Abendessen. Sie sind doch sicher nicht zu stolz, sich den Preis für ein neues Kleid zu verdienen.‹ Er zog ein zusammengefaltetes Stück weißes Papier aus der Westentasche. ›Sorgen Sie dafür, daß der Junge das noch heute abend bekommt, und Sie werden das hübscheste Kleid besitzen, das man für Geld kaufen kann.‹

      Sie war von der Ernsthaftigkeit seines Verhaltens erschreckt und lief an ihm vorbei zum Fenster, durch das sie gewöhnlich die Mahlzeiten hineinreichte. Es stand bereits offen, und Hunter saß drinnen an dem kleinen Tisch. Sie hatte gerade begonnen, ihm zu erzählen, was vorgefallen war, als der Fremde erneut auftauchte.

      ›Guten Abend‹, sagte er, indem er zum Fenster hereinschaute, ›auf ein Wort.‹ Das Mädchen hat beschworen, sie habe, während er sprach, aus seiner geschlossenen Hand eine Ecke des kleinen Papierpäckchens herausschauen sehen.

      ›Was haben Sie hier zu suchen?‹ fragte der Bursche.

      ›Was ich suche, bringt Ihnen vielleicht etwas ein‹, sagte der andere. ›Sie haben zwei Pferde für den Wessex Cup gemeldet – Silberstern und Bayard. Geben Sie mir den sicheren Tip, und es soll Ihr Schaden nicht sein. Trifft es zu, daß Bayard dem anderen bei gleichem Gewicht1 auf fünf Furlongs2 hundert Yard vorgeben konnte und daß der Stall sein Geld auf ihn gesetzt hat?‹

      ›Sie sind also einer von diesen verdammten Rennspionen‹, rief der Bursche. ›Ich werde Ihnen zeigen, wie wir in King's Pyland mit denen umgehen.‹ Er sprang auf und rannte durch den Stall, um den Hund loszumachen. Das Mädchen flüchtete zum Haus, blickte aber im Laufen zurück und sah, daß der Fremde sich zum Fenster hineinbeugte. Wenig später allerdings, als Hunter mit dem Hund nach draußen stürzte, war er verschwunden, und obwohl der Bursche um sämtliche Gebäude herumlief, fand er nicht die geringste Spur von ihm.«

      »Einen Augenblick!« bat ich. »Hat der Stallbursche, als er mit dem Hund nach draußen lief, die Stalltür unverschlossen gelassen?«

      »Ausgezeichnet, Watson; ausgezeichnet!« murmelte mein Gefährte. »Die Bedeutung dieses Umstandes sprang mir so eindringlich ins Auge, daß ich gestern eigens ein Telegramm nach Dartmoor geschickt habe, um den Sachverhalt zu klären. Der Bursche hat die Tür verschlossen, bevor er loslief. Das Fenster, darf ich hinzufügen, ist nicht groß genug, daß ein Mann einsteigen könnte.

      Hunter wartete, bis die anderen Stallknechte zurück waren, worauf er den Trainer benachrichtigen ließ und ihm mitteilte, was vorgefallen war. Straker war erregt, als er den Bericht vernahm, obgleich er dessen eigentliche Bedeutung nicht recht zu erfassen schien. Doch er hinterließ in ihm ein vages Unbehagen, und als Mrs. Straker morgens um eins erwachte, sah sie, daß er sich gerade ankleidete. Auf ihre Fragen meinte er, die Sorge um die Pferde lasse ihn nicht schlafen und er wolle zum Stall hinübergehen, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung sei. Sie bat ihn, zu Hause zu bleiben, denn sie hörte den Regen gegen die Fenster prasseln, aber trotz ihrer inständigen Bitten zog er seinen weiten Regenmantel an und ging aus dem Haus.

      Mrs. Straker erwachte morgens um sieben und stellte fest, daß ihr Mann noch nicht zurückgekehrt war. Sie kleidete sich hastig an, rief das Mädchen und begab sich zu den Ställen. Die Tür stand offen; drinnen saß, auf einem Stuhl zusammengesunken, Hunter im Zustand völliger Betäubung, die Box des Favoriten war leer, und von seinem Trainer fehlte jede Spur.

      Rasch wurden die beiden Burschen geweckt, die auf dem Futterboden über der Sattelkammer schliefen. Sie hatten in der Nacht nichts gehört, denn beide haben einen gesunden Schlaf. Hunter stand offensichtlich unter dem Einfluß irgendeiner starken Droge, und da nichts Vernünftiges aus ihm herauszubekommen war, ließ man ihn erst einmal ausschlafen, während die beiden Burschen und die beiden Frauen auf der Suche nach den Vermißten nach draußen liefen. Sie hegten immer noch die Hoffnung, der Trainer habe das Pferd aus irgendeinem Grunde zur Morgenarbeit herausgeholt, doch als sie die Hügelkuppe in der Nähe des Hauses erstiegen, von der aus sich das ganze angrenzende Moorgelände überblicken läßt, fanden sie nicht nur keinerlei Spur von dem Favoriten, sondern bemerkten überdies etwas, das die Anzeichen einer Tragödie andeutete.

      Etwa eine Viertelmeile von den Ställen entfernt flatterte John Strakers Mantel lose von einem Ginsterbusch. Direkt dahinter befand sich im Moor eine schalenförmige Senke, und auf deren Grund fand man den Leichnam des unglücklichen Trainers. Sein Kopf war von einem fürchterlichen Schlag mit irgendeiner schweren Waffe zerschmettert worden, und sein Oberschenkel wies eine lange, glatte Schnittwunde auf, die ihm offensichtlich mit einem sehr scharfen Instrument zugefügt worden war. Es war jedoch deutlich, daß sich Straker heftig gegen seine Angreifer gewehrt hatte, denn in der rechten Hand hielt er ein kleines Messer, das bis zum Griff blutbeschmiert war, während er mit der Linken ein rot-schwarzgemustertes Seidenhalstuch umklammerte, das von dem Mädchen als das des Fremden erkannt wurde, der am Vorabend die Ställe aufgesucht hatte.

      Auch Hunter war, nachdem er sich von seiner Betäubung erholt hatte, völlig sicher, was den Besitzer des Halstuchs anging. Er war gleichermaßen überzeugt, daß eben dieser Fremde, während er am Fenster stand, sein Hammelcurry mit der Droge versetzt und die Ställe so ihres Wächters beraubt habe.

      Von


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