Zenjanisches Feuer. Raik Thorstad
Читать онлайн книгу.Griff um den schlichten Holzbecher. Der Schnee war im Verlauf des Tages an der Oberfläche angetaut und überfror seit dem Sonnenuntergang beständig. Das junge Eis schnitt ihm in die Fußsohlen, während der Wind wie ein gieriger Räuber nach seiner nackten Haut griff.
Es war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort. Sie waren viel zu weit in den Süden gesegelt und damit endlose Meilen von den kargen Weiten des Ingen Tjadis-Gebirges entfernt, aber er hatte auf diesen Wunsch bestanden und zu seiner Überraschung hatten sämtliche Mitglieder der Bruderschaft zugestimmt. Sei es, weil sie ihn mehr schätzten, als ihm bewusst gewesen war, oder weil sie darauf bauten, dass er nach dieser Nacht ein anderer sein würde.
Er hoffte es selbst. So sehr, dass es ihn gegen die Kälte und die untergründige Angst vor dem, was ihn erwartete, abschirmte.
Zu Geryims Füßen verlor die Glut der winzigen Feuerstelle die letzte Farbe und hüllte sich in lebloses Schwarz. Es war Zeit; zu früh und gleichzeitig viel zu spät.
Ein letztes Mal tastete er nach Syvs Geist, um über dessen Sinne seine Wahrnehmung und damit seinen Horizont zu erweitern, nur um es sich im selben Atemzug zu verbieten. Diese eine Aufgabe musste er allein bewältigen. Er würde die Regeln nicht brechen. Niemand würde je davon erfahren, doch er selbst würde es wissen, und das wäre schlimm genug.
Geryim schloss die Augen und führte den Becher an die Lippen. Der Sud schmeckte genauso, wie er roch, und benetzte seine Zunge mit einer derart süßen Fäule, dass er sich die Hand auf den Mund pressen musste, um das Gebräu nicht auszuspucken. Es brauchte ein paar lange, erzwungen tiefe Atemzüge, um seinen rebellierenden Magen zu beruhigen. Dann fiel Geryim der Becher aus der Hand. Die letzten dunklen Tropfen verfärbten den Schnee in einer Farbe, die er nicht benennen konnte. Dafür hörte er sie in seinem Blut singen, immer schneller, immer höher, immer lauter. Der Waldsaum drehte sich um ihn. Eingeflochten in die Äste flatterte ein Faden aus Licht.
Geryims Knie wurden weich. Er war überzeugt, dass sie jeden Augenblick nachgeben würden. Doch stattdessen folgte er plötzlich dem tanzenden Band, das sich innerhalb eines Wimpernschlags aus dem Licht gesponnen hatte. Es hatte dieselbe Farbe wie die Tropfen im Schnee und eine Beschaffenheit, die er nicht beschreiben konnte. Ledrig vielleicht oder doch wie das feine Fell eines jungen Hirschs, dessen erster Frühling von Regen und frischen Knospen bestimmt gewesen war?
Nur der schneidende Wind auf seinen Wangen und seiner Brust verriet ihm, dass er rannte. Für die Bewegung selbst hatte er jedes Gefühl verloren. Das war gut. Empfindungen hatten auf dieser Jagd keinen Platz. Es gab nur ihn und seinen Gegner. Die Herausforderung, der er sich stellen musste, um endlich zu dem zu werden, der er schon vor Jahren hätte sein sollen.
Und wenn es ihm gelang…
Ein Band aus Farbe wob sich durch seinen Geist, kaum mehr als ein roter Schleier. Er barg Sinn in sich und damit den Grund, warum Geryim nicht versagen konnte. Durfte. Sonst würde sich alles, was rot war, vor seinen Augen auflösen und seiner Reichweite entrissen werden. Dieses Rot, das nun so nah war und auf ihn wartete. Ihnen war nicht viel Zeit vergönnt gewesen. Das Wenige, was sie bekommen hatten, hatte Geryim ihnen verdorben. Aber wenn er heute siegreich war…
Nicht jetzt. Nicht während der Jagd, flüsterte ihm eine Stimme zu. Er kannte sie. Sie war Teil seiner Vergangenheit, doch er wusste nicht mehr, wem sie gehört hatte. Ignorieren durfte er sie dennoch nicht.
Haken schlagend lief er durch den Wald. Ihm war bewusst, dass seine Zehen vor Kälte taub wurden, dass seine Lungen vor Anstrengung brannten und dass ihm immer wieder eisiger Schnee auf den Körper rieselte, wenn er im Weg hängende Äste beiseite-stieß. Gleichzeitig spürte er nichts davon. Er folgte dem flirrenden Band, das mit jedem Atemzug breiter zu werden schien, bis es vor ihm verharrte, verschwamm und sich dann auf ihn stürzte.
Geryim geriet ins Taumeln. Ihm war, als hätte man ihm die Augen verbunden. Und doch sah er die Niederung, in die es ihn getrieben hatte, und auch seinen Gegner, der ihm mit gesenktem Kopf entgegenblickte.
Ein Herzschlag. Ein kurzer Blickkontakt. Dann wussten sie alles übereinander, was es zu erfahren gab. Geryim sandte ein kurzes, aber inniges Gebet an Gor und dankte ihm, dass er ihn mit einem so ehrenwerten Gegner bedacht hatte.
Der Keiler war alt und müde. Einer seiner Hauer war auf halber Länge abgebrochen und zersplittert, das Fell an seinem Hals so räudig, dass man die Narben vergangener Kämpfe erkennen konnte. Doch in seinen kleinen, klugen Augen stand die Erinnerung an bessere Tage. Egal, wie sehr ihn seine Knochen schmerzten, egal, wie genau er darum wusste, dass dies sein letzter Winter war, würde er nicht aufgeben, sondern diese Schlacht austragen.
Geryim fragte sich benommen, ob es vielleicht Gor selbst war, der dem alten Keiler seine Kraft lieh und ihm damit ermöglichte, ein letztes Mal zu zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Es würde zu dem Halbgott passen, den alle Wargssolja und damit selbst Verlorene wie Geryim so glühend verehrten. Gor liebte die Jagd, aber die Wälder und ihre Bewohner liebte er noch mehr. Und was manchem Städter wie ein Widerspruch vorkam, war für Geryim schlichtweg eine der großen Wahrheiten, die ihm im Blut brannten.
Der Keiler schlug schnaubend mit dem Kopf. Wie Geryim bereits zuvor gewusst hatte, was in dem mächtigen Tier vor sich ging, wusste er nun auch, dass es die Geduld mit ihm verlor. Mit jedem verschwendeten Herzschlag stand der Witwenmond höher am Himmel und ließ den Schnee zu ihren Füßen und Klauen heller leuchten. Bald würde das Licht ihre Augen reizen, bis sie schneeblind waren, und dann wäre ihm der Keiler mit seinen feineren Sinnen überlegen. Offenbar kein Vorteil, den das Tier für sich zu nutzen gedachte. Falls es auf diese Weise denken konnte.
Geryim blinzelte. Die Schwefeldolde war in seinem Kopf, in seinem Blut und in seinem Herzen. Sie machte ihn sowohl träge als auch hellwach, betrunken wie nüchtern. Seine Hand zitterte nicht länger, als er nach seinem einzigen Kleidungsstück – einem schmalen Ledergurt um Brust und Hüfte – tastete. Lautlos zog er den Langdolch aus der Scheide und wog die vertraute Waffe in der Hand. Sie war bereits sein Werkzeug gewesen, als er ein an Körper und Geist tauber Meuchelmörder im Dienst eines halb vergessenen Handelsherren gewesen war. Sie hatte ihm immer beigestanden. Heute würde es nicht anders sein.
Geryim gab seiner inneren Stimme nach, den Dolch respektvoll an die linke Brustseite zu führen. Daraufhin bildete er sich ein, den Keiler einen seiner Vorderläufe beugen zu sehen, um den Gruß zu erwidern. Aber vielleicht wurden dem Schwarzkittel auch nur die Beine schwer.
Der Kampf begann, ohne dass es einer weiteren Geste bedurft hätte. Geryim dachte nicht. Stattdessen ließ er sich von Erinnerungen leiten. Manche schienen nicht seine eigenen zu sein. Er wusste um die Gefahr, die von den Hauern des Keilers ausging, und auch, dass seine eigenen Knochen zuerst splittern würden, sollten sie ungebremst aufeinandertreffen.
Daher vertraute er sich seiner Beweglichkeit und seinen Instinkten an, als der Keiler mit gesenktem Kopf auf ihn zustürmte. Geryim wartete bis zum letzten Moment, bevor er beiseitesprang. Herber Moschusgeruch strich an ihm vorbei. Sein Unterarm kribbelte, als er mit rauem Fell in Berührung geriet. Das Schnaufen des Keilers drang überlaut in Geryims Ohren und löschte beinahe alles andere aus. Nur sein Herzschlag dröhnte weiterhin zuverlässig in seinem Kopf und band ihn an die Wirklichkeit, während der Rest von ihm in eine andere Welt eintrat.
Geryims Beine ließen ihn ohne sein Zutun springen und rennen. Seine Augen nahmen Gelegenheiten wahr, die er selbst nicht bemerkte. Und sein Arm suchte nach jenem winzigen Moment zwischen Ein- und Ausatmen, in dem er niederfahren und den Kampf für sich, für sie entscheiden konnte. Jetzt.
Lodernder Schmerz fuhr ihm in die Schulter. Vor seinen Augen leuchteten rote Flecken auf und schwarzes Fell flog durch die Luft. Schulterblatt, behauptete die Stimme in Geryims Hinterkopf. So kommst du nicht weit.
Sie hatte recht. Es reichte nicht, dem Keiler in die Seite zu fallen und darauf zu hoffen, dass der Dolch weiches Fleisch fand. Er musste den Einsatz erhöhen.
Beim nächsten Ansturm wich Geryim nicht aus. Er sah den Keiler auf sich zurennen; eigentümlich langsam, wie er sich einbildete.
Auch, wenn er sich vorbereitet und seinen Körper weich gemacht hatte, trieb ihm der Aufprall die Luft aus den