Das Zeichen der Vier. Arthur Conan Doyle

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Das Zeichen der Vier - Arthur Conan Doyle


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angemessenen kühlen und nüchternen Darstellung. Sie haben es unternommen, sie romantisch zu verbrämen, was eine ganz ähnliche Wirkung hat, wie wenn man eine Liebes- und Entführungsgeschichte in den fünften Satz des Euklid einbaute.«

      »Aber es ging doch um Abenteuerliches und Romantisches«, wandte ich ein. »Ich konnte doch nicht die Tatsachen verfälschen!«

      »Bei gewissen Tatsachen wäre es besser, sie würden verschwiegen; und wenn sie schon zur Sprache kommen müssen, so sollte man wenigstens ein Gespür für die Verhältnismäßigkeit walten lassen. Das einzig wirklich Erwähnenswerte an diesem Fall war der eigentümliche analytische Gedankengang, der mich von den Wirkungen zu den Ursachen zurückführte und dank dem es mir gelang, den Fall zu lösen.«

      Ich war verstimmt ob dieser Kritik an einem Werk, das eigens deswegen verfaßt worden war, Holmes zu gefallen. Auch muß ich gestehen, daß mich seine Geltungssucht ärgerte, die zu fordern schien, daß jede Zeile meiner Schrift ausschließlich seinem eigenen speziellen Vorgehen gewidmet sein sollte. In all den Jahren, die ich mit ihm in der Baker Street gewohnt hatte, war mir schon mehr als einmal aufgefallen, daß sich hinter der gemessenen und belehrenden Art meines Freundes eine gewisse Eitelkeit verbarg. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken, sondern saß schweigend da und pflegte mein verwundetes Bein3. Es hatte vor geraumer Zeit eine Jezail-Kugel abbekommen, und wenn mich dies auch nicht am Gehen hinderte, so litt ich doch bei jedem Wetterumschlag unter zermürbenden Schmerzen.

      »Mein Wirkungsfeld hat sich vor kurzem auf den Kontinent ausgedehnt«, hob Holmes nach einer Weile wieder an, während er seine Bruyère-Pfeife stopfte. »Letzte Woche wurde ich von François le Villard konsultiert, der, wie Sie wahrscheinlich wissen, seit einiger Zeit zu den besten Leuten der französischen Kriminalpolizei gehört. Er hat durchaus das keltische Talent des raschen, intuitiven Erfassens; was ihm mangelt, ist jedoch ein breites Spektrum an exaktem Wissen, die Voraussetzung für jede Weiterentwicklung seiner Kunst. Der Fall, den er mir vorlegte, hatte mit einem Testament zu tun und enthielt einige Details von Interesse. Ich konnte auf zwei Parallelfälle verweisen, einen in Riga 1857 und einen in St. Louis 1871, was ihn dann auf die richtige Spur brachte. Hier ist der Brief, den ich heute früh erhalten habe und in dem er mir seinen Dank für meine Hilfe ausspricht.«

      Mit diesen Worten warf er mir ein zerknittertes Blatt fremdländischen Briefpapiers hin. Beim Überfliegen fiel mir eine Fülle von Ausdrücken der Bewunderung auf; magnifique, coup-de-maître und tour-de-force zeugten von der glühenden Bewunderung des Franzosen.

      »Er spricht wie ein Schüler zu seinem Lehrer«, bemerkte ich.

      »Ach, er schätzt meine Hilfe zu hoch ein«, sagte Sherlock Holmes wegwerfend. »Er hat selbst ganz beachtliche Fähigkeiten. Er besitzt zwei der drei Eigenschaften, die den idealen Detektiv ausmachen; die Fähigkeit der Beobachtung und die der Deduktion. Das einzige, was ihm noch fehlt, ist Wissen, und das kann mit der Zeit erworben werden. Im Augenblick übersetzt er gerade meine bescheidenen Schriften ins Französische.«

      »Ihre Schriften?«

      »Oh, wußten Sie das nicht?« rief er lachend. »Ja, ich habe mehrere Monographien verbrochen, alle über technische Probleme. Dies hier zum Beispiel ist eine Abhandlung ›Über die Unterscheidung der Ascherückstände verschiedener Tabaksorten‹. Darin werden einhundertundvierzig verschiedene Arten von Zigarren-, Zigaretten- und Pfeifentabak aufgeführt, mit Farbtafeln, welche die unterschiedliche Aschenbildung anschaulich machen. Das ist eine Sache, die in Strafprozessen immer wieder zur Sprache kommt und die oft Hinweise von größter Wichtigkeit zu geben vermag. Wenn sich beispielsweise eindeutig feststellen läßt, daß ein Mord von jemandem verübt wurde, der eine indische Lunkah-Zigarre rauchte, so grenzt das natürlich das Untersuchungsfeld ein. Für das geübte Auge besteht zwischen der schwarzen Asche einer indischen Trichinopoly-Zigarre und der hellen, flockigen Asche des englischen Bird's-Eye-Tabaks ein ebenso großer Unterschied wie zwischen einem Kohlkopf und einer Kartoffel.«

      »Sie haben einen genialen Sinn für Details«, sagte ich.

      »Ich messe ihnen die gebührende Bedeutung zu. Hier ist meine Abhandlung über das Lesen von Fußspuren, mit einigen Anmerkungen über die Verwendung von Gips zur Konservierung von Abdrücken. Auch dies hier ist ein interessantes kleines Werk; es behandelt den Einfluß des Berufsstandes auf die Form der Hand4 und enthält Abbildungen der Hände von Dachdeckern, Seeleuten, Korkschneidern, Schriftsetzern, Webern und Diamantschleifern. Es handelt sich hier um ein Gebiet, das für den wissenschaftlichen Detektiv von großem praktischem Nutzen ist – besonders etwa, wenn es darum geht, eine Leiche zu identifizieren oder das Vorleben eines Kriminellen zu rekonstruieren. Aber ich langweile Sie gewiß mit meinem Hobby.«

      »Keineswegs«, widersprach ich mit Nachdruck. »Es interessiert mich brennend, um so mehr, als ich schon die Gelegenheit hatte, Sie derlei in der Praxis anwenden zu sehen. Aber Sie sprachen vorhin von Beobachtung und Deduktion. Das eine bedingt doch wohl das andere, gewissermaßen?«

      »Kaum«, antwortete er, lehnte sich behaglich in seinem Sessel zurück und ließ aus seiner Pfeife dicke, bläuliche Rauchkringel aufsteigen. »Zum Beispiel zeigt mir die Beobachtung, daß Sie heute vormittag auf dem Postamt in der Wigmore Street waren, die Deduktion aber sagt mir, daß Sie dort ein Telegramm aufgegeben haben.«

      »Stimmt!« sagte ich. »Beides stimmt! Aber ich muß gestehen, daß es mir unerklärlich ist, wie Sie darauf gekommen sind. Es war ein ganz plötzlicher Entschluß meinerseits, und ich habe keinem Menschen gegenüber etwas davon erwähnt.«

      »Nichts einfacher als das«, meinte er, über meine Verblüffung schmunzelnd; »es ist so lächerlich einfach, daß sich eine Erklärung eigentlich erübrigt; aber vielleicht kann sie etwas zur Festlegung der Grenzen von Beobachtung und Deduktion beitragen. Meine Beobachtungsgabe teilt mir mit, daß auf dem Rist eines Ihrer Schuhe ein wenig rötliche Erde klebt. Direkt vor dem Postamt in der Wigmore Street ist das Pflaster aufgerissen und ein Erdhaufen aufgeworfen worden, der so liegt, daß man ihn kaum umgehen kann, wenn man ins Postamt will. Die Erde dort hat einen ganz besonderen, rötlichen Farbton, der meines Wissens an keinem anderen Ort der näheren Umgebung zu finden ist. Bis hierher ist alles Beobachtung; der Rest ist Deduktion.«

      »Und wie haben Sie dann das Telegramm deduziert?«

      »Nun, ich wußte natürlich, daß Sie keinen Brief geschrieben hatten, da ich Ihnen den ganzen Morgen gegenübersaß. Zudem kann ich sehen, daß Sie in Ihrem Schreibtisch, der offensteht, einen ganzen Bogen Briefmarken und ein dickes Bündel Postkarten haben. Wofür also sollten Sie das Postamt betreten, außer um ein Telegramm aufzugeben? Man schließe alle anderen Möglichkeiten aus, und die eine, die übrigbleibt, muß die Wahrheit sein.«

      »In diesem Fall trifft das sicherlich zu«, griff ich den Faden nach einigem Nachdenken wieder auf. »Allerdings liegt diese Sache, wie Sie ja selbst sagen, sehr einfach. Würden Sie es als Unverschämtheit empfinden, wenn ich Ihre Theorie auf eine härtere Probe stellte?«

      »Ganz im Gegenteil«, antwortete er, »es würde mich davon abhalten, eine zweite Dosis Kokain zu nehmen. Es wird mir ein Vergnügen sein, mich mit jeglichem Problem zu befassen, das Sie mir vorzulegen belieben.«

      »Ich habe Sie verschiedentlich sagen hören, es sei kaum möglich, einen Gegenstand täglich in Gebrauch zu haben, ohne Spuren darauf zu hinterlassen, die einem geübten Beobachter Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Besitzers gestatteten. Nun denn, ich habe hier eine Uhr, die erst kürzlich in meinen Besitz gelangt ist. Würden Sie so gut sein, mir Ihre Meinung über den Charakter oder die Gewohnheiten des früheren Eigentümers mitzuteilen?«

      Ich reichte ihm die Uhr mit einem Anflug von heimlicher Schadenfreude, denn die Aufgabe war, so glaubte ich, unlösbar, und ich beabsichtigte, ihm wegen des professoralen Tones, den er gelegentlich anschlug, eine Lehre zu erteilen. Er wog die Uhr in der Hand, musterte eingehend das Zifferblatt, öffnete das Gehäuse und untersuchte das Uhrwerk, zuerst von bloßem Auge, dann mit Hilfe eines starken Vergrößerungsglases. Als er schließlich die Uhr wieder zuklappte und mir zurückgab, konnte ich mir angesichts seiner niedergeschlagenen Miene nur mit Mühe ein


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