Das Zeichen der Vier. Arthur Conan Doyle

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Das Zeichen der Vier - Arthur Conan Doyle


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hatte das Gefühl, hier fehl am Platze zu sein.

      »Sie werden mich gewiß entschuldigen«, murmelte ich und erhob mich von meinem Stuhl.

      Zu meiner Überraschung hob die junge Dame ihre behandschuhte Hand, um mich zurückzuhalten.

      »Wenn Ihr Freund die Güte haben wollte zu verweilen, so könnte er mir vielleicht einen unschätzbaren Dienst erweisen«, sagte sie.

      Ich sank auf meinen Stuhl zurück.

      »Die Tatsachen sind, in aller Kürze, die folgenden«, fuhr sie fort. »Mein Vater war Offizier bei einem indischen Regiment und schickte mich in die Heimat zurück, als ich noch ein kleines Mädchen war. Meine Mutter war nicht mehr am Leben, und ich hatte keine Verwandten in England. Ich wurde jedoch in einem guten Pensionat in Edinburgh untergebracht, wo ich bis zu meinem siebzehnten Altersjahr blieb. Im Jahre 1878 erhielt mein Vater, der dienstältester Hauptmann seines Regiments war, einen zwölfmonatigen Urlaub und kehrte nach Hause zurück. Von London aus teilte er mir telegraphisch mit, daß er gut angekommen sei und daß ich sogleich zu ihm kommen solle; als Adresse gab er das Langham Hotel an. Die Botschaft war, wie ich mich erinnere, voller Liebe und Güte. In London angekommen, fuhr ich sogleich zum Langham Hotel, wo ich die Auskunft erhielt, Captain Morstan sei wohl dort abgestiegen, jedoch am Abend zuvor ausgegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Ich wartete den ganzen Tag lang, ohne etwas von ihm zu hören. Am Abend wandte ich mich, auf den Rat des Hoteldirektors hin, an die Polizei, und am folgenden Morgen annoncierten wir in allen Zeitungen. Unsere Nachforschungen blieben jedoch ergebnislos, und bis zum heutigen Tag bin ich ohne irgendein Lebenszeichen von meinem unglücklichen Vater. Er war zurückgekehrt, das Herz voller Hoffnung auf ein wenig Ruhe, ein wenig Behaglichkeit, und statt dessen ...«

      Sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle, und der Satz brach in einem erstickten Schluchzen ab.

      »Das Datum?« fragte Holmes und öffnete sein Notizbuch.

      »Er verschwand am 3. Dezember 1878, vor beinahe zehn Jahren.«

      »Sein Gepäck?«

      »War im Hotel zurückgeblieben. Es fand sich nichts darin, das einen Anhaltspunkt hätte bieten können; nur Kleider, ein paar Bücher und ein Haufen Kuriositäten von den Andamanen-Inseln5. Mein Vater hatte dort als Offizier die Wachmannschaften für die Sträflinge befehligt.«

      »Hatte er Freunde in London?«

      »Meines Wissens nur einen; Major Sholto vom 34th Bombay Infantry, demselben Regiment wie mein Vater. Der Major hatte kurze Zeit zuvor seinen Abschied genommen und lebte in Upper Norwood. Selbstverständlich setzten wir uns sofort mit ihm in Verbindung, aber er wußte nicht einmal, daß sich sein Offizierskamerad in England aufhielt.«

      »Ein sonderbarer Fall«, bemerkte Holmes.

      »Den sonderbarsten Teil davon hab ich Ihnen noch gar nicht erzählt. Vor ungefähr sechs Jahren – oder, um präzis zu sein, am 4. Mai 1882 – erschien in der Times eine Annonce, in der nach der Adresse von Miss Mary Morstan geforscht und versichert wurde, es sei zu ihrem Vorteil, sich zu melden. Die Annonce war weder mit einem Namen noch mit einer Adresse versehen. Zu jener Zeit hatte ich eben meine Stelle als Gesellschafterin im Hause von Mrs. Cecil Forrester angetreten, und auf ihren Rat hin ließ ich meine Adresse in der Annoncenspalte abdrucken. Noch am selben Tag erhielt ich mit der Post eine kleine, an mich adressierte Pappschachtel, in der ich eine sehr große, schimmernde Perle, aber keinerlei Begleitschreiben fand. Seither taucht Jahr für Jahr, immer am selben Tag, so eine Schachtel mit so einer Perle darin auf, ohne den geringsten Hinweis auf den Absender. Nach dem Urteil eines Kenners sind die Perlen von seltener Art und beträchtlichem Wert. Überzeugen Sie sich selbst, sie sind wirklich ausgesprochen hübsch.«

      Bei diesen Worten öffnete sie ein flaches Etui und zeigte mir sechs der schönsten Perlen, die ich je gesehen hatte.

      »Ihr Bericht ist ausgesprochen interessant«, sagte Sherlock Holmes. »Hat sich sonst noch etwas ereignet?«

      »Ja, und zwar gerade heute. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe heute morgen diesen Brief erhalten; vielleicht möchten Sie ihn sich selbst ansehen.«

      »Danke«, sagte Holmes, »den Umschlag auch, bitte. Poststempel London S.W., datiert 7. Juli. Hm. Männlicher Daumenabdruck in der einen Ecke – wahrscheinlich der Postbote. Erstklassiges Briefpapier, Umschläge zu Sixpence das Paket; der Mann scheint ziemlich wählerisch zu sein in diesen Dingen. Kein Absender.

      Finden Sie sich heute abend um sieben Uhr bei der dritten Säule von links vor dem Lyceum Theatre ein. Wenn Sie Bedenken haben, bringen Sie zwei Freunde mit. Man hat Ihnen unrecht getan, und nun soll Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel, sonst ist alles vergebens.

      Ihr unbekannter Freund

      Nun, das ist ja wirklich ein nettes kleines Rätsel! Was gedenken Sie zu tun, Miss Morstan?«

      »Genau das wollte ich Sie fragen.«

      »Dann müssen wir natürlich hingehen, Sie und ich und – ja, natürlich, Dr. Watson ist genau der richtige Mann dafür. Der Brief spricht von zwei Freunden, und wir beide haben schon früher zusammengearbeitet.«

      »Aber wird er bereit sein mitzukommen?« fragte sie, und etwas Flehentliches lag dabei in ihrer Stimme und in ihrem Blick.

      »Es würde mich mit Stolz und Freude erfüllen, Ihnen einen Dienst erweisen zu können«, versicherte ich mit Wärme.

      »Sie beide sind so freundlich zu mir«, sagte sie. »Ich führe ein zurückgezogenes Leben und habe keine Freunde, an die ich mich wenden könnte. – Reicht es, wenn ich um sechs Uhr wieder hier bin?«

      »Ja, aber nicht später«, antwortete Holmes. »Nur noch eine Frage: Ist dies dieselbe Handschrift wie auf den Adressen der Perlenschachteln?«

      »Ich habe sie mitgebracht«, antwortete sie und kramte sechs Zettel hervor.

      »Sie sind wirklich eine Muster-Klientin; Sie haben einen Instinkt dafür, worauf es ankommt. Dann wollen wir einmal sehen ...« Er breitete die Zettel auf dem Tisch aus und ließ seinen Blick von einem zum anderen huschen. »Alles mit verstellter Handschrift geschrieben, mit Ausnahme des Briefes«, sagte er nach einer Weile, »aber die Urheberschaft steht außer Frage. Schauen Sie, wie unbezwingbar das griechische ›e‹ durchbricht, und beachten Sie den Schnörkel beim ›s‹ am Wortende. Das ist ohne Zweifel alles von derselben Person geschrieben. Ich möchte keine falschen Hoffnungen in Ihnen wecken, Miss Morstan, aber besteht irgendeine Ähnlichkeit zwischen dieser Handschrift und derjenigen Ihres Vaters?«

      »Der Unterschied könnte nicht größer sein.«

      »Das habe ich mir gedacht. Wir erwarten Sie also um sechs Uhr. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich die Papiere hierbehalten. Es könnte sein, daß ich mir die Sache vor dem Abend nochmals ansehe. Es ist erst halb vier. Also dann, au revoir.«

      »Au revoir«, erwiderte unsere Besucherin, schenkte jedem von uns einen freundlichen, strahlenden Blick, barg das Etui mit den Perlen wieder an ihrem Busen und eilte davon.

      Ich stand am Fenster und blickte ihr nach, wie sie rasch die Straße entlangschritt, bis der graue Hut mit der weißen Feder nur noch als winziger Punkt in der dunklen Menge zu erkennen war.

      »Was für eine außerordentlich attraktive Frau!« rief ich aus, als ich mich meinem Gefährten zuwandte.

      Er hatte sich seine Pfeife wieder angesteckt und saß weit zurückgelehnt, mit gesenkten Augenlidern da. »Tatsächlich?« versetzte er träge. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

      »Sie sind ein richtiger Automat, eine Rechenmaschine!« rief ich. »Zuweilen haben Sie etwas entschieden Unmenschliches an sich.«

      Er lächelte liebenswürdig.

      »Es ist von größter Wichtigkeit«, sagte er, »sein Urteil nicht beirren zu lassen durch die Vorzüge oder Mängel einer Person. Ein Klient ist für mich nicht mehr als eine abstrakte Einheit, ein Faktor in einem Problem. Gefühlsregungen sind dem klaren Denken feind.


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