Hinkels Mord. Christina Bacher
Читать онлайн книгу.hatte hängen wollen. Da stand ein Kerl mit dunklen Locken im Türrahmen und grinste sie spitzbübisch an. »Konstantin!«
»Hab dich eigentlich schon früher erwartet.«
»Was um alles in der Welt machst du in Marburg?« Wie war der hier reingekommen? Hatte er aus früheren Zeiten noch einen Schlüssel für das Haus? Oder hatte die Tür offen gestanden? Liva starrte ihn ungläubig an. »Musstest du heute nicht arbeiten?«
»Doch. Hab mich nach Feierabend direkt ins Auto gesetzt. Ich lasse dich eben sehr ungerne alleine in die Vergangenheit reisen.« Er grinste. »Muss allerdings morgen wieder zurück nach Köln.« Ein kurzer Blick über seine Schulter reichte, um festzustellen, dass er bereits eine Flasche Rotwein geköpft hatte und offenbar gerade dabei gewesen war, sich alte Fotos anzuschauen.
»Ist das Alex’ Fotokiste?« Obwohl sie sich sehr vertraut waren, empfand sie sein Verhalten gerade als übergriffig und unangebracht. Mit welchem Recht wühlte er hier in ihrer Familiengeschichte herum? Gut, er war Alex’ bester Freund gewesen, aber auch er hatte seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt und war nur mal an Weihnachten oder an Geburtstagen auf Stippvisite zurückgekommen. Sein Verhältnis zu seiner Mutter, die ebenfalls alleinerziehend gewesen war, war zerrüttet. Zu dem Vater hatte er nie Kontakt gehabt. Das verband sie irgendwie, auch, wenn es nie groß Thema gewesen war.
»Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?«
Liva folgte ihm zum Esstisch, wo eine üppige Brotzeit auf dem Tisch bereitstand. Er schob mehrere Stapel Fotos beiseite. Ihr fiel auf, dass er die Abzüge fein säuberlich sortiert hatte. Warum?
Konstantin machte eine einladende Geste und setzte sich selbst auf den Platz, den früher ihre Mutter eingenommen hatte. Dann griff er in die Brotschale und bediente sich am Käse – es hatte etwas ganz Selbstverständliches. So, als würden sie jeden Abend zusammen essen. Liva merkte erst jetzt, wo all die Köstlichkeiten vor ihr standen, dass sie einen Bärenhunger hatte.
»Als heute Morgen keine Nachricht von dir kam, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich wusste ja nicht mal, ob du gut nach Hause gekommen bist. Und da ich eh in Ehrenfeld unterwegs war, habe ich so um die Mittagszeit mal bei dir zu Hause angehalten. Und da stand dieser junge, attraktive Mann mit dem Drei-Tage-Bart vor deiner Tür, halb verfroren in Jeans und einem bunten T-Shirt, und klingelte bei dir Sturm.« Er knabberte an einer Gewürzgurke. »Marcel heißt der. Und er wollte dich dringend sprechen.«
Die Beschreibung passte auf ihr nächtliches Date, den Bräutigam. Liva merkte, wie ihr eine leichte Röte übers Gesicht flog. Marcel hieß er also. Stimmt, jetzt fiel es ihr auch wieder ein. »Und?«
»Naja, er hat wohl seine Lederjacke bei dir vergessen«, Konstantin räusperte sich.
»Oh, das ist natürlich doof! Dann muss er warten, bis ich zurück bin, und solange eine andere Jacke anziehen«, sagte sie bewusst unbekümmert. Im Grunde interessierte sie dieser Marcel gerade nicht die Bohne, obwohl er ja wirklich ganz süß und aufmerksam gewesen war. Sie hatte gerade andere Sorgen. Kurz checkte sie ihr Handy, ob sie vielleicht einen Anruf aus der Klinik verpasst hatte. Keine Nachrichten waren in dieser Situation gute Nachrichten, so viel stand fest.
»Er war vor allem deswegen aufgelöst, weil sich in der Jacke die Ringe befinden, die er am Samstag benötigt! Er heiratet dann nämlich.« Vorwurfsvoller konnte man nicht gucken. Konstantin verzog pikiert den Mund. Okay, er hatte im Grunde ja Recht. Einen Bräutigam abzuschleppen, gehörte sich nun wirklich nicht. Dennoch konnte sie gerade keine moralische Keule brauchen.
»Er jedenfalls wusste zu berichten, dass du am Morgen einen Anruf aus einer Marburger Klinik erhalten hast und dass es deiner Mutter sehr schlecht geht. Dann habe ich eins und eins zusammengezählt und bin hergekommen.«
Während dieser Marcel im Bad gewesen war, hatte er also das ganze Telefonat mitgehört. Dass er dann in der Eile seine Jacke vergessen hatte, tat ihr natürlich leid. Und was nun?
»Netter Kerl«, Konstantin konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Vielleicht ein bisschen zu sehr … verlobt.«
»Kann es sein, dass du dich gerade in etwas einmischst, das dich gar nichts angeht?« Liva schüttete ein Glas von dem Bordeaux hinunter, als handelte es sich um Wasser. Sie hatte einerseits Durst und andererseits Lust, sich gnadenlos zu betrinken. Doch irgendetwas bremste sie. Sie spürte, dass sie vernünftig bleiben musste. Sie brauchte einen klaren Kopf, weil sie Entscheidungen über Leben und Tod treffen musste.
»Ja, das stimmt. Ich habe ihm nämlich versprochen, ihm deine Nummer zu geben. Irgendwie muss er ja wieder an seine Jacke kommen, nicht wahr?«
»Oh, danke dafür!«, sagte Liva spöttisch. Sie konnte es nicht fassen. Konstantin würde doch nicht einfach die Regel Nummer eins brechen: Gib nie eine Nummer raus ohne Absprache.
»Oder du händigst mir deinen Haustürschlüssel aus und ich gebe ihm seine Sachen, wenn ich morgen zurück bin. Deal?« Konstantin streckte ihr die geöffnete Hand hin.
Er meinte es offenbar ernst. Seine permanente Hilfsbereitschaft nervte sie kolossal. Was ging ihn dieser Typ an? Warum um alles in der Welt solidarisierte er sich jetzt auch noch mit diesem Fremden?
Liva suchte in den Weiten ihres Rucksacks den Schlüssel und knallte ihn auf den Tisch. »Da!« Dann sprang sie auf. »Ich muss mich jetzt um Wodka kümmern. Der arme Hund harrt seit heute Morgen bei der Müllerin drüben aus. Sicher ist er schon schwer traumatisiert.«
»Liva?«
»Was?« Sie drehte sich um.
»Kann ich heute Nacht hierbleiben? Würde es mir einfach hier im Wohnzimmer gemütlich machen. Ist das okay für dich?«
Das olle Sofa. Dort hatte er früher auch oft gepennt, wenn er mit Alex auf Piste gewesen war und den Weg in sein Elternhaus in der Nacht nicht mehr hatte bewältigen können. Sie nickte. Auch, wenn sie es nicht zugeben wollte, war sie heilfroh, dass er gerade da war. Er war der einzige Freund, den sie hatte. Vielleicht eine Art Bruderersatz. Er war derjenige, der sie zur Not auch mal zur Vernunft pfiff. Und er konnte ihr ein charmanter Begleiter sein, wenn sich sonst niemand fand, der Lust auf Kultur oder Kneipe hatte. Und jetzt rettete er auch noch die Hochzeit eines wildfremden Paares, deren Ehe von vornherein unter einem schlechten Stern stand. Für all das war sie ihm dankbar. Aber dass er sich heute auf den Weg gemacht hatte, um ihr beizustehen, das würde sie ihm nie vergessen.
»Selbstverständlich«, sagte sie und verschwand durch die Tür.
14. September 1861, Witwe Hilberg
Was ist das doch für ein verdammter, dreckijer Lügner! Hat der lumpige Geselle vom Koburger wirklich behauptet, dass mein Ludwig was mit dem Mord zu tun hat? Herr Polizeioberhauptmann, das sagt er doch nur, um von sich selbst abzulenken. Was? Daran haben Sie noch gar nicht gedacht? Muss Ihnen eine alte Frau erklären, wie Sie Ihre Arbeit zu machen haben? Das weiß doch jeder hier, dass der seine Finger nicht bei sich lassen kann. Weil er nämlich aus demselben Holz geschnitzt ist wie die Wiegand, dieses dumme Hinkel. Gleich und Gleich gesellt sich gern, heißt es doch. Was? Der war zur Tatzeit auf der Arbeit, das können alle bezeugen? Pfff. Stecken doch alle unter einer Decke. Aber wenn Sie das glauben wollen, bitteschön. Mit einem Schreiner aus Niederweimar soll sie auch rumgemacht haben, das dumme Tier. Haben Sie den schon verhört? Vermutlich hat der sie abgeschlachtet. Ziemlich sicher sogar. Denn dass da ein Braten in der Röhre war, haben die Spatzen schon lange von den Dächern gepfiffen. Hat sich nicht mal geschämt dafür. Hat den Bauch stolz vor sich hergeschoben.
Woher ich die Wiegand kenne? Na, die hat hier doch gearbeitet. Ab und zu. Das war im Frühjahr. Aber das habe ich schon Ihren Kollegen von der Polizeidirektion gesagt. Heute könnt’ ich heulen, dass wir so ein Getier überhaupt ins Haus gelassen haben. Dumm und faul ist sie gewesen. Sollte dem Ludwig zur Hand gehen. Stattdessen hat sie nur rumgesessen, uns die Vorräte weggegessen und ist vorlaut und frech gewesen. Und sobald ich das Haus frühmorgens verlassen hab, hat sie aufreizend gelacht wie ein Pferd und sich an meinen Ludwig rangeschmissen. So, dass die Nachbarin mich