Halt. Michael Donkor

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Halt - Michael Donkor


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so heftig, dass sich das glitzernde Bindi löste, das sie neuerdings trug. Amma hob es auf, reichte es ihr. Helena drückte sich den Punkt akkurat wieder auf die Stirn. Dann prüfte sie ihr Spiegelbild in einer der Scheiben, und Amma fiel auf, wie beglückt sie aussah. Wie leicht dieses Glück zustandekam.

      »Wann hattest du am meisten Angst?«, fragte Amma.

      »Komische Frage.«

      »Sag schon.«

      »Warum willst du das wissen?«

      »Was sträubst du dich so, ma chérie

      Helenas gerötete Augen blitzten. »Als ich glaubte, ich würde ertrinken. Aber das weißt du doch. Also willst du etwas –«

      »Macht nichts. Erzähl einfach weiter.«

      »Okay. Ich muss so acht gewesen sein. Mum war damals mit diesem gruseligen Cellisten zusammen.«

      »Ach der. Mit den Zähnen und den Fingernägeln.«

      »Wir waren zu dritt in Cornwall. Er war noch nie dort gewesen und Mum freute sich wie ein Kind, ihm alles zu zeigen und bla bla bla. Irgendwann mal nachmittags waren wir am Strand und ich schwamm im Meer. Gar nicht so weit draußen, weil ich ja ein braves Mädchen bin und die Regeln kenne –«

      »Stimmt genau.«

      »Und dann hatte ich einen Krampf, er wand sich irgendwie um mein Bein, es fühlte sich an wie zusammengepresst. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war. Es war grauenhaft. Ich schluckte Wasser. Ich schrie. Mir kam es vor wie Stunden, aber das ist in solchen … solchen Krisenmomenten immer so, oder? Dass die Zeit sich dehnt? Ich wette, in Wahrheit dauerte es nur fünfzehn Sekunden oder so, bis der Cellist kam und mich aus dem Wasser holte. Und so war er immerhin zu etwas gut.« Helena lachte auf und nahm einen anderen Pinsel.

      Amma gefiel nicht, was sie da gerade machte – dass sie ihrer Freundin eine Leistung abverlangte, mit der sie sich selbst etwas beweisen wollte, etwas, was sie bereits erkannt hatte, ohne dass diese Erkenntnis irgendeine Veränderung bewirken könnte. Die Wahrheit drängte sich aber auf, als Amma sah, wie begeistert Helena erzählte und sich die Einzelheiten in Erinnerung rief. Mit Angst ging Helena locker um, vielleicht, weil sie später darüber sprechen konnte. Amma konnte das, was sie preisgeben wollte, nicht so unbekümmert erzählen. Konnte sich damit keine Späße erlauben.

      Als Helena ihr die Pfeife anbot, hustete Amma und schüttelte den Kopf. Sie kehrte zum Rattansessel zurück und nahm den Apfel in die Hand. »Okay, lass uns weitermachen. Saß ich eben so?« Amma versuchte, die Pose von vorhin wieder einzunehmen. »Oder so?«

      »Was, jetzt? Machen wir weiter? Ich komme ja gar nicht hinterher.«

      »Oder eher so? So?«

      Mit feierlichem Ernst reinigte Helena ihren Pinsel in trübem Wasser, schniefte und seufzte, was Amma jedoch nur mit halbem Ohr hörte, weil sie die Hochglanzhaut des Apfels betrachtete und sich fragte, wie Helena wohl reagieren würde, falls sie die drei weichen braunen Stellen eindrückte: drei winzige Dellen von widerwärtiger Empfindlichkeit.

       10

      Früher an diesem Tag sichtete Nana in Belindas neuem Zimmer ihre Habseligkeiten. Belinda sah zu, die Finger fest um ihre Daumen gepresst. Nana prüfte sämtliche Kleidungsstücke und reagierte auf jedes T-Shirt und auf jede Shorts mit einem enttäuschten Seufzer. Sie beklagte sich darüber, dass sie in letzter Zeit nie Gelegenheit für einen richtig schönen Fraueneinkaufsbummel bekommen habe. Sie war der Meinung, Belinda solle ihre neue Umgebung erkunden, und zwar bald, bevor es allzu schwül werde. Sie versprach ihr, sie würden zusammen viel Spaß haben.

      Und so machten sie sich zu Marks & Spencer auf. Belinda ging dicht hinter Nana, als sie sich ihren Weg durch die lärmende Brixton High Road bahnten. Die Spätsommerhitze lastete auf Belindas Schultern. Der Himmel war öde, der Verkehr grimmig. Um sie herum wurde nur gehupt oder gebrüllt. Fahrradfahrer drehten sich um und beschimpften Autofahrer. Drei weiße Transporter mit Streifen und wirbelndem Blaulicht ächzten. Busse wanden sich um Straßenecken wie kränkliche Raupen. Mit Bedacht mieden Nana und Belinda die stämmigen schwarzen Mülltonnen, die vor Packungen und Flaschen überquollen und Nana »Lambeth Council« zischen ließen, als hätte sie gerade einen misslungenen kenkey gekostet. Ein hochgewachsener Mann mit Rollen an den Schuhen bewegte sich seelenruhig fort. Er überholte sie und verlor sich dann in der Ferne als dünne, senkrechte Linie inmitten der Menge. Nirgendwo war Platz, die Straße war zu voll, der Bürgersteig zu schmal, um alle aufzunehmen, die sich hier drängten. Nana marschierte weiter, deutete mit zwei entschiedenen Fingern nach vorn und schwang ihre gelbe Handtasche mit den kleinen LVs. Belinda versuchte, Schritt zu halten, drohte aber ständig, mit anderen zusammenzustoßen, so sehr zog die Umgebung ihre Aufmerksamkeit auf sich.

      Zu ihrer Linken spielte vor einem riesigen Geschäft – Iceland – eine Gruppe von Kindern auf silbernen Trommeln, die Belinda an die Eimer erinnerten, mit denen sie Wasser vom Fluss geholt hatte, wenn die Dorfpumpe defekt war. Der wabernde Klang ließ die Luft schimmern. Zwei Frauen mit Schlapphüten waren vor der Band stehen geblieben, um zu tanzen, sie wackelten mit dem Hintern und hielten sich die Brüste. Neben einem noch riesigeren Geschäft – Morley’s – bildeten muskulöse Männer in knappen Unterhemden einen Kreis. Lässig trugen sie Gewehre aus buntem Plastik. Eine Spaßarmee. Sie drückten das Ende ihrer vermeintlichen Waffen gegen den Boden, als wollten sie sich darauf stützen. Um die Männer bildete sich ein größerer Kreis aus jungen Frauen. Sie spielten mit den kleinen Schmucksteinen, die ihnen aus dem Nabel sprossen, fuhren mit dem Finger über die Zeichnungen auf ihren Armen, redeten mit den Hündchen zu ihren Füßen, die ins Leere bissen. Alle paar Sekunden drückte einer der Männer den Abzug und verspritzte Wasser. Die jungen Frauen kreischten, als hätte sie das überrascht, die Hündchen wurden wild und die Männer schüttelten reihum Hände. Nana murmelte vor sich hin. Belinda wünschte, sie könnte ihre Worte verstehen, aber Nana schien sehr darum bemüht, extrem leise zu sprechen.

      Gegenüber von Superdrug stolperte Belinda und fiel auf die Knie. Ein Mädchen mit roter Kappe und einem Bündel Flyer in der Hand half ihr wieder auf. Kichernd fragte sie Belinda, ob sie okay sei. Belinda brauchte eine Weile, um aufzustehen und sich auf das Gesagte zu besinnen, denn das Bild auf dem Flyer hatte sie abgelenkt: ein schwarzes Baby mit zugekniffenen Augen, dem Tränen über die staubigen Wangen liefen. Das Mädchen forderte Nana auf, mit nur fünf Pfund monatlich einen Beitrag zur Rettung von Kindern zu leisten. Nana winkte ab.

      Belinda hatte schon erlebt, was eine Menschenmenge war. Sie hatte sich durch New Tafo gekämpft. Sie hatte sich dem Block todesmutiger Fußgänger angeschlossen, die über die Wahnsinnskreuzung an der Kwadwo Kannin Street hasteten. Das konnte man aber nicht vergleichen, denn hier zogen so viele weiße Gesichter vorbei.

      Natürlich hatte sie davor auch schon oburoni gesehen: Leonardo DiCaprio und Julia Roberts in den Zeitschriften, die Aunty im Bad auf dem Boden liegen ließ, die Staatenlenker in den Nachrichten, den albernen jungen Mann im Zoo, die Familien in Heathrow. Belinda wusste über die merkwürdige Beschaffenheit ihres Haars Bescheid, über ihre noch merkwürdigeren Laute, die so klangen, als würden sie nicht durch den Mund, sondern durch die Nase nach außen dringen. Doch hier wirkten die oburoni sogar noch merkwürdiger. So entschlossen. Oder konzentriert. Ja, ihre blassen Augen richteten sich mit aller Konzentration auf etwas sehr Wichtiges. Und auch sie waren wichtig, mit ihren hoch erhobenen Köpfen und den straffen Schultern und den fast schon wütenden Gesichtern. Bestimmt viel zu wichtig, um sie wahrzunehmen. Aber würde Belinda ihnen missfallen, wenn ihr Blick flüchtig auf sie fiele? Würde ihr Anblick ihre Gesichter noch röter werden lassen? Während sie einem Kind Platz machte, das an einer Stretchleine geführt wurde – für einen der kläffenden Hunde wäre sie bestimmt passender gewesen –, fragte sich Belinda, ob Nana jemals diese lächerliche Angst vor Weißen empfunden hatte. Und wie sie diese losgeworden war. Denn wie sollte man hier mit dieser kribbelnden Angst leben? Wie sollte man atmen, denken, überhaupt etwas tun?

      Schließlich erreichten sie Marks & Spencer. Als sie die Schiebetüren passierten, versuchte Belinda die Quelle der quäkenden


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