Halt. Michael Donkor
Читать онлайн книгу.Seiten vor. Kritzelte sich die Namen von Dichtern, die sie bisher nicht kannte, auf das Handgelenk. Natürlich wusste sie, dass ihr Verhalten unmöglich war. Sie konnte nicht anders.
Amma würdigte den aufwendig geschnitzten Deckel des Schmuckkästchens keines Blicks und rieb an den verschmierten Namen. Sie nahm eine Haarklemme von ihrem Schreibtisch, saugte so lange an den Enden, bis sich die schwarzen Kügelchen lösten, und spuckte sie auf die Glasplatte: winzige Geschosse. Vielleicht hatte die letzte Nacht auch mit Belinda zu tun, mit ihrer Ankunft. Amma störte sich an der Vorstellung einer Besucherin. Keine Privatsphäre mehr. Jemand, der alles beobachten, der Fragen stellen würde. Wieder jemand, an den man denken müsste. Sie rutschte auf dem Kissen herum. Sie hätte sich mehr Mühe geben können, mit Belinda im Taxi. Schließlich hatte Amma sich manchmal sogar gefragt, wie es wäre, eine schwarze Freundin zu haben. Als sie aber vom Flughafen hierher gefahren waren, hatte Amma aus den Augenwinkeln gesehen, wie Belindas Gesicht – die riesigen Augen, der breite Mund, tatsächlich waren fast alle ihre Züge eine Spur zu groß – vor lauter Beherrschung immer wieder zuckte und sich verzerrte.
Als sie plötzlich Mums Stimme hörte, war das kein Schock. »Amma? Amma Otuo? Aden! Dein eigener Vater kommt nach Hause und du überlässt es einem Gast, ihn willkommen zu heißen. Maame; so geht das nicht.«
Amma stand auf. Nun musste sie die sichere Zuflucht ihres Schreibtischs verlassen und sich nach unten begeben, in die Gesellschaft von drei Leuten, die nicht das nötige Rüstzeug hatten, um sie zu verstehen. Und das konnte man ihnen unter Umständen nicht einmal vorwerfen. Wir sind nun mal dort geboren, wo wir geboren sind, zum Glauben verleitet, zu dem wir verleitet werden. Der zweite Teil dieser Konstruktion war besonders problematisch. Sie zog an ihren schwarzen und lila Zöpfen, um sich aus dieser Stimmung zu reißen.
»Bin gleich da, liebste Mama«, sagte Amma. Sarkasmus war die schnellste und erbärmlichste Ausflucht.
7
Belinda unterbrach das Gespräch, atmete tief ein, um die Anspannung zu lösen, die sie beim Telefonieren verspürte. Es war gar nicht so leicht, Mary gegenüber einen unbekümmerten, lockeren Ton anzuschlagen. Sie versuchte es noch einmal.
»Und – und wie geht’s unserer Aunty?«
»Ihr geht’s prima. Aber du hast doch gerade mit ihr geredet, oder?«, sagte Mary.
»Ja.«
»Dann hast du’s ja selber gehört. Ich kümmer mich supergut um sie. Auch um Uncle. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich mach mir gar keine … Sorgen.«
»Schön für dich. Hast Glück. Keine Sorgen zu haben. In deinem englischen Schloss.«
»Was ist mit dir? Geht’s dir auch gut?«
»Ja, Belinda, alles bestens.«
Sie stellte sich Mary neben der Veranda vor, mit dem Hörer fest in der Hand. Sie hörte sich anders an, obwohl Belinda erst drei Tage weg war.
»Ich kann dich nicht so gut hören, Belinda. Belinda? Red lauter, sonst hör ich dich nicht.«
»Ich habe doch nichts gesagt.«
»Oh.«
»Ich –«
»Ich –«
Sie kicherten beide. »Du zuerst, Belinda.«
»Ich kann es gar nicht fassen, dass ich hier bin. Und das alles ohne dich sehe. So viel.«
»Erzähl’s mir. Na los.«
Belinda freute sich, am anderen Ende so etwas wie Begeisterung zu vernehmen, und zog an der geringelten Telefonschnur.
»Wo soll ich nur anfangen? Also … Das Viertel, in dem sie hier leben, heißt Herne Hill. Einen Hügel konnte ich bisher nicht entdecken, und ich hab mehrmals nachgefragt. Außerdem … außerdem sind hier alle Straßen geteert. Und man sieht dort viele arme, arme Menschen sitzen. Ich hab Kirchen wie Schlösser gesehen, noch größer als das Hauptpostamt. Und die Post? Mensch, Mary, die Briefe kommen direkt zu dir. Jeden Tag. Man braucht nicht mit dem Tro-tro oder Taxi in die Stadt zu fahren und Schlange zu stehen.«
»Sa?«
»Und die Katzen? Schlafen bei den Weißen im Bett. Adjei! Wie kleine Kinder. Und da gibt’s noch was, was dich bestimmt ekelt, Mary: Im Fernsehen küssen sie die Tiere, als würden die nie durch die Stadt streunen und Müll fressen.«
»Nein!«
Mary gackerte und Belinda lehnte sich an die Wand im Flur, lauschte dem rauen Klang.
»Ich. Ich fühl mich furchtbar schuldig, mir geht’s schlecht. Wenn ich an dich denke.«
»Das ist aber nicht nett, sowas zu sagen.«
»Ich dachte, vielleicht bist du mir noch böse. Manchmal. Wut verraucht nicht so schnell.«
»Dafür hab ich doch keine Zeit, liebe Schwester.«
»Jaaha.«
»Wütend werd ich höchstens, weil du nix erzählst.«
»Was meinst du denn?«
»Ich mein, da redest du ewig, ohne das Mädchen zu erwähnen, kein einziges Mal. Katzen? Postamt? Was ist mit deiner neuen Freundin-Prinzessin?«
»Ach. Amma.«
»›Ach. Amma.‹ Richtig, Amma. Als du mir gesagt hast, du fährst hin, um diese Amma-Prinzessin zu treffen, dachte ich mir: Wow wow wow! Das wird vielleicht ein Spaß, paaa.«
»Stimmt.« Als Belinda ihr schließlich erzählt hatte, dass die Otuos eine halbwüchsige Tochter hatten, reagierte Mary eher mit Interesse als mit Eifersucht, was Belinda zunächst erleichterte. Mary war auf ihrem durchgelegenen Bett auf und ab gehüpft und hatte immer wieder Ammas Namen gerufen, bis Belinda sie stoppte.
»Sag schon«, fuhr Mary jetzt fort, »sag mir, wie sie aussieht, was hat diese Amma für ein Gesicht? Sehr schwarz? So schwarz wie ich? So schwarz wie du? Oder ist es hell?«
»Sie ist schwarz.«
»Aha! Erzähl mir mehr: Riecht sie anders als du und ich? Wie riecht sie denn? Wie Blumen, jede Wette.«
»Keine Ahnung. So nah war ich nicht dran, dass meine Nase –«
»Schon gut. Aber was ist mit ihrer Stimme? Ihrer Weißenstimme? Mach diese Stimme mal nach, dann kann ich sie morgen Gärtner vorspielen. Das gefällt ihm sicher sehr.«
»Kann ich nicht.«
»Warum nicht? Du behältst alles für dich.« Mary schnalzte mit der Zunge. Dann flüsterte sie laut: »Oh! Sie steht direkt neben dir, darum bist du so stumm und geheimniskrämerisch. Alles klar …«
»Nein, daran liegt’s nicht. Ich hab sie bisher nur kaum sprechen hören.«
»Sa?«
Belinda fand das selbst schier unglaublich, aber seit ihrer Ankunft war Amma meistens »weg«. Die längste Zeit, die sie mit ihr verbracht hatte, war im Taxi gewesen. Als sie daran zurückdachte, verspürte Belinda einen klebrigen Geschmack am Gaumen.
»Dieses Mädchen wirkt so … Sie wirkt sehr still. Das ist nicht weiter schlimm, klar. Wenn sie nicht reden will. Ich kann sie ja nicht zwingen. Es ist nur … Egal. Es ist noch zu früh, um –«
»Raus damit, Belinda. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Die Telefonkarte piept bald.«
»Ich hab nur manchmal das Gefühl, wenn ich den Mund aufmache – um beim Abendessen Dank zu sagen oder nach dem Wetter zu fragen, weil Aunty mir gesagt hat, darüber reden sie gern –, wenn ich also den Mund aufmache, macht Amma ein Geräusch, als würde sie lachen. Über mich. Auf meine Kosten. Ganz unauffällig. Nicht lauter als ein Husten, der Fieber anzeigt. Ich hör’s aber. Dabei hab ich gar keinen Witz gemacht. Und wenn