Führungsinstinkt. Anke van Beekhuis
Читать онлайн книгу.wirklich eine alpine Koryphäe. Da ziehe ich meinen Hut.«
Sepp blickt auf die kleine Speisekarte der Hütte: »Vielleicht sollt’ ma vor dem Abstieg noch ein Mittagessen einnehmen.«
Systemisches Denken – den Mut des Leaders in sich selbst finden
Was braucht es, um mutig genug zu sein, den ersten Weg, den uns die Angst vorschlägt, NICHT zu nehmen, sondern in uns selbst andere Möglichkeiten auszuloten? Wo in uns sitzt der verlässliche Kompass bzw. der Instinkt für die wirklich beste Lösung in einer Situation? Was hilft uns dabei, nicht nur aufgrund des bereits Erlebten zu entscheiden? Wo ist die Tür zum systemischen Denken, die es dafür aufzustoßen gilt?
Lassen Sie uns dazu ein wenig in die Theorie gehen und erforschen, was bekannte Denker dazu meinen: Biologen wie Humberto Maturana und Francisco Varela zählen ebenso zum systemischen Wissensfeld wie der Physiker Fritjof Capra, der Mathematiker und Physiker Heinz von Förster, der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick und die Gehirnforscher Gerhard Roth, Joachim Bauer und Gerald Hüther.
Was ist das Besondere am systemischen Denken und warum ist es gerade hier so wichtig? Es unterscheidet ganz klar nicht lebende Systeme (Maschinen und Technik), lebende Systeme (Organismen, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme und Menschen) und soziale Systeme (Paare, Gruppen und Organisationen). Das erscheint vielleicht selbstverständlich und logisch. Dennoch war es nicht immer so. Lange Zeit – und wir reden hier von wirklich langer Zeit – wurden in der Denk- und Verhaltensforschung auch lebende Systeme als »Maschinen« betrachtet. Dementsprechend drehte sich in der Auslotung des menschlichen Verhaltens das meiste um technische Prozesse, Abläufe und ein fertiges Endprodukt (Ziel).
Das systemische Denken – als Zusammenspiel von Kybernetik, Konstruktivismus und Systemtheorie – änderte die Denkrichtung: Die Kybernetik erforscht selbst organisierte Steuerungsprozesse und die vielfältigen und unberechenbaren Wechselwirkungen in einem System. Allerdings können Menschen meist Ursache und Wirkung nicht unterscheiden – sie wissen daher auch nicht, warum sie so handeln, wie sie handeln. Im Bemühen, eine Ursache zu erkennen, vertrauen sie dann eher auf ihren Intellekt anstatt auf ihre Instinkte. Wem aber die Ursache seines Handels bewusst ist, der kann auch sein Verhalten verändern.
Sehen wir uns zur besseren Veranschaulichung ein Beispiel aus der Medizin an: Wenn Sie nicht wissen, woher Ihre Kopfschmerzen kommen, haben Sie auch keine Ahnung, was Sie verändern könnten. Wissen Sie aber, dass die Kopfschmerzen von Verspannungen – und nicht vom Kopf selbst – herrühren, wissen Sie: Eine Massage und mehr Bewegung wären hilfreich. Sie könnten auf Basis der bekannten Ursache Ihr Verhalten verändern, damit Sie eine andere Wirkung (weniger Kopfschmerzen) erzielen.
Genauso ist es in der Führung. Wenn Sie wissen, warum Sie handeln, wie Sie handeln – z. B. auf einen bestimmten Mitarbeiter aggressiv reagieren –, sind Sie in der Lage, sich anders zu verhalten. Ohne bewusste Grundlagenforschung fällt Ihnen vielleicht auf, dass Sie sich unfair dieser Person gegenüber verhalten. Wenn Sie aber wissen, dass das permanente Zuspätkommen des Kollegen der Grund ist, würden Sie andere, sinnvollere Handlungsansätze erkennen. Dann würde es Ihnen höchstwahrscheinlich sinnvoller erscheinen, mit dem Mitarbeiter ein Gespräch über Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Disziplin zu führen.
Aber das ist nicht das Ende der Erkenntnis. Im Rahmen eines solchen Gesprächs wäre es auch sinnvoll, die Ursache der permanenten Unpünktlichkeit herauszufinden, um das Verhalten des Mitarbeiters zu verändern. Schließlich macht es einen großen Unterschied, ob er zu spät kommt, weil die Tochter nicht rechtzeitig in den Kindergarten gehen will oder weil er sich die Nächte um die Ohren schlägt und in der Früh nicht in die Gänge kommt.
Systemtheorie beinhaltet aber auch den Konstruktivismus, der alles noch ein wenig komplexer macht. Alles basiert auf den essenziellen Fragen der Erkenntnistheorie:
Haben wir direkten Zugang zu der Realität, die uns umgibt?
Können wir die Welt wirklich direkt erkennen?
Der Konstruktivismus verneint beides und behauptet stattdessen, dass Wahrnehmungen (auch als Instinkte zu bezeichnen) nicht die tatsächliche Wirklichkeit, sondern lediglich Selektionen und Interpretationen unseres Gehirns sind, die wir auf Basis unserer Erfahrung treffen. Dieses von uns selbst unbewusst ausgewählte subjektive »Konstrukt« hat also nicht unbedingt etwas mit der äußerlichen Realität zu tun.
Wen dieses spannende Thema näher interessiert: Die Bücher von Paul Watzlawick sind weltberühmte Pionierarbeit auf diesem Gebiet und wärmstens zu empfehlen.
Aber bleiben wir beim Thema Führung: Der Konstruktivismus stellt einen unangenehmen Abschied von Objektivität, Wahrheit und Wirklichkeit dar. Für eine Führungskraft bedeutet das nämlich: Sie hat keine bessere oder »wahrhaftigere« Sichtweise auf die Dinge als ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Perspektive ist nur ... anders.
Noch einmal zum Auf-der-Zunge-zergehen-Lassen: Alle Menschen haben somit – egal ob Führungsposition oder nicht – eine rein subjektive Wahrnehmung, die niemals einen Anspruch auf ein »Besser, Klüger oder Richtiger« erheben kann. Wenn Sie das nächste Mal in einer Situation sind, in der jemand vehement auf sein Recht pocht (oder in der Sie sich selbst dabei ertappen), denken Sie an den Konstruktivismus. Dann kommt die Bescheidenheit von ganz allein.
Schauen wir uns noch kurz die Systemtheorie als dritten Bestandteil des systemischen Denkens an, die wesentlich von dem deutschen Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann geprägt wurde: Hier dreht sich alles um soziale Systeme und kommunikative Zusammenschlüsse von Menschen. Die zentrale Botschaft: Menschen, Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und Führungskräfte, werden nicht als Elemente von Organisationen, sondern als relevante Umwelt des Systems gesehen.
Das stellt – Sie haben es wahrscheinlich schon geahnt – einen weiteren radikalen Bruch mit den ansonsten üblichen Vorstellungen des Zusammenspiels von Personen und Organisationen dar. Die Idee dahinter kann man aber noch radikaler formulieren: Der Mensch ist möglicherweise austauschbar und ein System (bzw. eine Position) lässt sich durch einzelne Personen nicht verändern.
Was bedeuten all diese Hintergründe jetzt konkret für Sie als Führungsperson? Lassen Sie uns Ihnen eine kompakte Zusammenfassung geben:
Lebende Systeme – also Systeme mit menschlicher Beteiligung – sind eigensinnig, selbstgesteuert, unberechenbar und zu ungeahnten Entwicklung fähig.
Allzu starre Führung kann nach hinten losgehen.
Wenig bis gar keine Führung kann zum Chaos führen.
Wir Menschen unterscheiden uns hier sehr stark von nicht lebenden Systemen (Maschinen), deren lineare und mechanistische Logik unglücklicherweise das Weltbild der letzten 500 Jahre geprägt hat.
Unglücklicherweise? Aus gegenwärtiger Sicht ja, denn leider hat dieses Denken dazu geführt, dass wir unsere Instinkte verdrängt haben. Da Organisationen jedoch nicht wie Maschinen funktionieren, entgeht einem ohne sensible Instinkte Wesentliches – in einer Gruppe, in einem Team, in einer Abteilung oder auch in der Unternehmensführung.
Die gute Nachricht: Der Instinkt lässt sich wieder einschalten und nützen! Doch das erfordert, dass Sie einen ehrlichen Blick in sich selbst wagen und dort an ein paar »Schrauben« drehen.
Auch wenn wir Menschen und keine Maschinen sind, haben wir im metaphorischen Sinn ein paar »Knöpfe«, die wir selbst unbewusst drücken und die uns, anstatt nur instinktiv zu fühlen, auch immer wieder denken und handeln lassen.
Werfen Sie Ihren persönlichen Ballast ab!
Als Menschen halten wir in den verschiedenen Phasen unseres Lebens nur selten inne und stellen uns die Frage, warum wir eigentlich sind, wer wir sind. Wir versuchen uns so gut wie nie jene Erfahrungen in Erinnerung zu rufen, die uns geprägt haben. Wir sind selten willens dazu, ausgiebig in den Rückspiegel zu blicken und den Ursprung jener Aspekte von uns selbst zu lokalisieren, von denen wir glauben, dass sie »angeboren« wurden. Aber dass es da Schlüsselerlebnisse, Erziehungserfolge, Aha-Momente, Autoritäten und Geschichten geben muss, liegt auf der Hand – oder besser gesagt in unserem