Eine große Zeit. William Boyd
Читать онлайн книгу.bis zur Taille hoch; im Halbschatten darunter erblickte Lysander ihre Oberschenkel, zwei hellen Säulen gleich, und das dunkle Dreieck ihrer Scham.
»Danke, aber daran habe ich keinen Bedarf, Traudl.«
»Und was ist mit den zwanzig Kronen?«
»Die kannst du behalten. Ich werde Leutnant Rozman sagen, dass wir uns prächtig amüsiert haben.«
»Sie sind ein herzensguter Mensch, Herr Rief.« Traudl machte einen Knicks.
Kein Mensch ist ganz frei von Schuld, dachte Lysander, während er Traudl die Tür aufhielt. Er wollte ihr Trinkgeld geben und wühlte in den Hosentaschen nach Münzen, fand aber nur eine Visitenkarte. Was brauchte sie auch Trinkgeld – sie hatte gerade zwanzig Kronen verdient.
»Ich kann gern ein andermal vorbeikommen«, sagte Traudl.
»Nein, nein, nicht nötig.«
Lysander machte die Tür hinter ihr zu. Sieh einer an, der Strom der Lust. Er betrachtete die Visitenkarte in seiner Hand – wer war das überhaupt?
»Hauptmann Alwyn Munro DSO«, las er. »Militärattaché, Britische Botschaft, Metternichgasse 6, Wien III.«
Schon wieder so ein gottverdammter Soldat. Er legte die Karte auf seinen Schreibtisch.
9 Autobiographische Untersuchungen
Es ist der Sommer des Jahres 1900. Ich bin vierzehn und lebe in Claverleigh Hall in East Sussex, dem Landsitz meines Stiefvaters Lord Faulkner. Mein Vater ist seit einem Jahr tot. Neun Monate nach seiner Beerdigung hat meine Mutter Lord Faulkner geheiratet. Sie ist seine zweite Ehefrau, die neue Lady Faulkner. In der Nachbarschaft freuen sich alle für den alten Lord, einen schroffen, aber gütigen Witwer Ende fünfzig, der einen erwachsenen Sohn hat.
Ich weiß noch immer nicht so recht, wie ich dieses neue Arrangement finde, diese neue Familie, dieses neue Zuhause. Claverleigh und die dazugehörigen Ländereien bleiben für mich in weiten Teilen Terra incognita. Jenseits der beiden umfriedeten Gärten gibt es Wälder und Felder, Haine und Auen, Koppeln und zwei Bauernhöfe, die sich über die Hügel von East Sussex erstrecken. Ein großes, gut geführtes Anwesen, auf dem ich mich unablässig fremd fühle, obwohl die Bediensteten alle sehr freundlich sind, die Lakaien, Hausmädchen, Kutscher und Gärtner. Sie lächeln, wenn sie mich sehen, und nennen mich »Master Lysander«.
Man hat mich von meiner Londoner Schule genommen – »Mrs Chalmers Musterschule für Jungen« –, nun werde ich vom hiesigen Pfarrer unterrichtet, dem Reverend Farmiloe, einem alten, gelehrten Junggesellen. Mutter hat mir gesagt, dass ich im Herbst höchstwahrscheinlich auf ein Internat komme.
Es ist Samstag, ich habe also keinen Unterricht, aber der Reverend hat mir aufgetragen, ein Gedicht von Alexander Pope zu lesen, »Der Lockenraub«. Es fällt mir sehr schwer. Nach dem Mittagessen nehme ich das Buch in den großen umfriedeten Garten mit, auf der Suche nach einer abgeschiedenen Bank, um meine mühselige Lektüre fortzusetzen. An sich mag ich Lyrik, ich kann sie mir gut einprägen, aber zu Alexander Pope finde ich keinen Zugang – anders als zu Keats oder Tennyson, meinem Lieblingsdichter. Auf den lang gezogenen Blumenrabatten tummeln sich die Gärtner und Aushilfsburschen, sie jäten Unkraut und grüßen mich, während ich vorbeigehe: »Guten Tag, Master Lysander.« Ich grüße zurück – inzwischen kenne ich sie fast alle. Old Digby, den Chefgärtner, Davy Bledlow und seinen Sohn Tommy. Tommy ist ein paar Jahre älter als ich und hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihm auf Hasenjagd zu gehen. Er besitzt ein preisgekröntes Frettchen namens Ruby. Ich sagte: Nein danke. Ich habe keine Lust, Hasen zu jagen und zu töten – das finde ich grausam. Tommy Bledlow ist ein großer Kerl mit eingedrückter Nase, die ihn ziemlich seltsam aussehen lässt – wie einen bedrohlichen Clown. Ich verlasse den umfriedeten Garten und steige über den Zauntritt in den Wald von Claverleigh.
Die Sonne dringt durch das frische grüne Blattwerk der uralten Eichen und Buchen. Ich entdecke ein moosbewachsenes Eckchen zwischen zwei knorrigen Brettwurzeln einer großen Eiche. Ich strecke mich auf einem sonnenbeschienenen Fleck aus und genieße die Wärme auf der Haut. Es weht eine ganz leichte Brise. In der Ferne höre ich einen Zug die Strecke Lewes-Pevensey entlangtuckern. Vogelgesang – eine Drossel, glaube ich, eine Schwarzdrossel. Es herrscht himmlischer Frieden. Ein warmer Sommertag in Südengland zu Beginn des neuen Jahrhunderts.
Ich schlage das Buch auf und fange an zu lesen, versuche, mich zu konzentrieren. Ich unterbreche meine Lektüre, um Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Ich strecke die Zehen und lese weiter.
Durch weißen Mull traf scheu ein Sonnenstrahl
Das Auge, das sein leuchtender Rival.
Im London der Rokokozeit liegt eine schöne junge Frau im Bett, bald wird sie aufwachen, sich ankleiden und ihr gesellschaftliches Leben aufnehmen – das ist so weit ersichtlich. Ich lehne mich zurück, sodass ich mit dem Kopf im Schatten liege und mit dem Körper in der Sonne.
Mit Himmelsbrust und goldener Kronen Glast
Von wegen »Brust«, fällt mir dann auf, da steht »Blust«. Himmelsblust. Warum habe ich mich verlesen? Immerhin ruht Belinda, die Heldin, noch auf ihrem weichen Lager, leicht bekleidet, wer weiß, was da hervorblitzt – ich blättere um.
Was wahrt beim Maskenfest, bei Hof, beim Tanz
Der hingeschmolzenen Jungfrau ihren Kranz
Warum »hingeschmolzen«? Da fällt mir die Küchenmagd ein – heißt sie nicht auch Belinda? –, die große mit den kecken Augen. Ihre Brust verheißt auf jeden Fall weiche Ruh. Ich weiß noch, einmal habe ich sie an der Feuerstelle knien sehen, mit hochgekrempelten Ärmeln und aufgeknöpfter Bluse, die Hitze war fast unerträglich. Aber was hat der Kranz damit zu tun? Ich ahne dunkel, was …
Mein Penis regt sich unter dem Hosenstoff, ein angenehmes Gefühl. Die Sonne wärmt mir den Schoß. Ich sehe mich um – weit und breit keine Menschenseele. Ich öffne Gürtel und Hosenknöpfe, ziehe Hose und Unterhose bis zu den Knien hinunter. Die Sonne ist wie Balsam. Ich streichle mich.
Ich denke an Belinda – die Küchenmagd. Stelle mir kissenweiche Brüste vor, stelle mir vor, wie wir in der Hitze dahinschmelzen. Ich packe fester zu. Bewege langsam die Faust auf und nieder …
Als Nächstes erinnere ich mich an die Stimme meiner Mutter, die nach mir ruft.
»Lysander? Lysander, mein Schatz …«
Ich träume. Und dann wird mir bewusst, dass das kein Traum ist. Ich wache mühsam auf, als wäre ich betäubt worden. Ich öffne die Augen, blinzle und sehe die Silhouette meiner Mutter im Gegenlicht. Meine Mutter steht da und sieht auf mich herunter. Sie wirkt sehr verstört.
»Lysander, mein Schatz, was ist passiert?«
»Was?« Ich schlafe noch immer halb. Meine Augen folgen ihrem Blick: Hose und Unterhose bauschen sich um meine Knie, ich sehe meinen schlaffen Penis und das kleine, dunkle Haarbüschel darüber.
Ich ziehe die Hosen hoch, rolle mich zu einer Kugel zusammen und fange hemmungslos zu weinen an.
»Was ist denn passiert, mein Schatz?«
»Tommy Bledlow«, schluchze ich aus unerfindlichen Gründen. »Tommy Bledlow hat mir das angetan.«
10 Auf merkwürdige Art auserwählt
Lysander hörte auf vorzulesen. Im Rückblick brannte er vor Scham, wie knochentrockenes Feuerholz, lodernd und prasselnd vor Hitze. Sein Mund war ausgedörrt. Komm schon, sei erwachsen, dachte er, du bist siebenundzwanzig – das ist Schnee von vorgestern.
Er blieb stumm. Sein Arzt musste den Anfang machen.
»Aha«, sagte Bensimon. »So, so. Damals waren Sie also vierzehn.«
»Ich hatte wohl ein paar Stunden geschlafen und deswegen die Teestunde verpasst. Meine besorgte Mutter machte sich auf die Suche. Die Gärtner erzählten ihr, dass ich in den Wald gegangen war.«
»Und Sie hatten zu masturbieren begonnen –«