Eine große Zeit. William Boyd
Читать онлайн книгу.Ich bleibe dir also noch ein Weilchen erhalten. Ende September fangen wir mit den Feldübungen an.« Er lächelte. »Wie war’s mit dem Landei?«
»Oh, mit Traudl meinst du. Ja. Sehr nett. Vielen Dank.« Lysander wechselte rasch das Thema. »Was hättest du gemacht, wenn es nicht zum Freispruch gekommen wäre?«
Wolfram dachte kurz nach. »Dann hätte ich mich wohl umgebracht.« Er runzelte die Stirn, als ginge er in Gedanken nüchtern sämtliche Möglichkeiten durch. »Wahrscheinlich hätte ich mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Oder Gift genommen.«
»Mein Gott! Das ist doch nicht dein Ernst?«
»Aber sicher – du musst nämlich wissen, Lysander, dass der Freitod hier in Wien, in unserem verfallenden Kaiserreich, als vollkommen vernünftige Lösung gilt. Jeder wird verstehen, was in einem vorgegangen ist und warum man keine andere Wahl hatte – niemand wird einen deswegen verdammen.«
»Wirklich?«
»Ja. Sobald du das verstehst, verstehst du uns.« Wolfram lächelte. »Wir haben ihn zutiefst verinnerlicht. Den Selbstmord – das Wort spricht für sich. Eine durchaus ehrenwerte Art, diese Welt zu verlassen.«
Nachdem sie die Flasche ausgetrunken hatten, ging Lysander einigermaßen angeheitert in sein Zimmer. Er dachte daran, das Abendessen diesmal ausfallen zu lassen – er könnte vielleicht in ein Café gehen und weitertrinken. Ihm war ganz beschwingt zumute, natürlich freute er sich für Wolfram, aber auch, weil es ihm selbst endlich gelungen war, das Schweigen über seine Vergangenheit zu brechen.
Auf dem Schreibtisch erwartete ihn seine Post. Ein Brief von Blanche, einer von seiner Londoner Bank und ein Umschlag mit österreichischer Briefmarke und einer ihm unbekannten Handschrift. Er riss ihn auf. Darin steckte eine Einladung zur Vernissage einer Ausstellung »neuerer Werke« des Künstlers Udo Hoff in einer zentral gelegenen Galerie – der Bosendorfer-Renz-Galerie für moderne Kunst. Am unteren Rand stand in grüner Tinte und mit ausladenden bauchigen Buchstaben der Appell: »Kommen Sie! Hettie Bull.«
11 Parallelismus
Auf Bensimons Anregung hin war Lysander vom Sessel zum Diwan gewechselt. Er wusste noch nicht so recht, was dieser Platztausch und die veränderte Körperhaltung bewirken würden, doch Bensimon hatte darauf bestanden. Den Kopf auf mehrere Kissen gebettet, hatte Lysander immer noch eine ausgezeichnete Sicht auf das afrikanische Flachrelief.
»Wie alt war Ihre Mutter, als Ihr Vater starb?«, fragte Bensimon.
»Fünfunddreißig … sechsunddreißig, um genau zu sein.«
»Noch recht jung.«
»Durchaus.«
»Wie hat sie auf den Tod Ihres Vaters reagiert?«
Lysander dachte an diese Zeit zurück, an den grausamen Schock, die bodenlose Trauer, die er selbst empfunden hatte, als die Nachricht kam. Im dunklen Nebel seiner von eigenen Gefühlen befrachteten Erinnerung fiel ihm wieder ein, wie schwer es seine Mutter getroffen hatte.
»Sie war am Boden zerstört – kein Wunder. Sie betete meinen Vater an, lebte nur für ihn. Als sie heirateten, gab sie ihre Karriere auf. Sie begleitete ihn auf sämtlichen Reisen. Nach meiner Geburt war auch ich immer dabei. Er hatte nämlich eine eigene Truppe, abgesehen von seinen Engagements an Londoner Theatern. Sie half ihm bei der Organisation, erledigte die tägliche Verwaltungsarbeit. Wir waren immerzu auf Tournee durch ganz England, Irland, Schottland. Lebten in gemieteten Häusern oder Wohnungen – ein richtiges Heim hatten wir eigentlich nie. Als er starb, waren wir in einer Wohnung in South Kensington untergebracht. Trotz seines Ruhms und Erfolgs war mein Vater bei seinem Tod praktisch bankrott – er hatte sein ganzes Geld in die Halifax Rief Theatre Company gesteckt. Für meine Mutter war kaum etwas übrig geblieben. Ich weiß noch, dass wir nach Paddington umziehen mussten. Zwei Zimmer, ein Kamin, Küche und Badezimmer teilten wir mit zwei anderen Familien.«
Lysander hatte die Zimmer lebhaft vor Augen. Vor Schmutz starrende Fenster, auf dem Boden abgenutztes Linoleum voller Flicken. Der Rußgestank vom benachbarten Bahnhof, das Tuten und Pfeifen auf den Rangiergleisen, das Poltern und Donnern der Eisenbahnwaggons und seine Mutter, die Tag und Nacht leise vor sich hin weinte. Dann lernte sie aus heiterem Himmel Crickmay Faulkner kennen, und alles wurde anders.
Nach reiflicher Überlegung fügte er hinzu: »Eine Zeit lang hat sie getrunken. Das hat sie sehr diskret gehandhabt, doch in den Monaten nach der Beerdigung hat sie viel getrunken. Sie hat sich nie ungebührlich benommen, aber ich konnte es riechen, wenn sie ins Bett kam.«
»Ins Bett kam?«
»Damals hatten wir nur ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer zur Verfügung«, erklärte Lysander. »Wir haben im selben Bett geschlafen. Bis Lord Faulkner um ihre Hand anhielt und uns in Putney unterbrachte, wo ich ein eigenes Zimmer bekam.«
»Ich verstehe. Wie hat Ihre Mutter Ihren Vater kennengelernt? Ist er nach Wien gekommen?«
»Nein. Meine Mutter sang im Chor einer deutschen Opernkompanie, die 1884 durch England und Schottland tourte. Sie hatte – hat – einen sehr schönen Mezzosopran. In Glasgow trat sie im King’s Theatre auf, in Wagners Tristan, der abwechselnd mit der Macbeth-Inszenierung von Halifax Riefs Theatertruppe aufgeführt wurde. Sie lernten sich hinter den Kulissen kennen. Es war Liebe auf den zweiten Blick, sagte mein Vater immer.«
»Warum auf den zweiten Blick?«
»Auf den ersten Blick hatte er nach eigenem Bekunden nicht gerade an Liebe gedacht. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber sicher. ›Liebe auf den zweiten Blick‹. Ein hübsches Kompliment.«
»Warum stellen Sie mir all diese Fragen über meine Mutter, Dr. Bensimon? Ich bin schließlich nicht Ödipus.«
»Gott bewahre, das ganz bestimmt nicht. Ich glaube allerdings, das, was Sie mir beim letzten Mal erzählt – was Sie mir vorgelesen – haben, birgt den Schlüssel zu Ihrer Heilung. Ich versuche nur, mehr über die Hintergründe zu erfahren, über Ihr Leben.«
Lysander hörte ihn den Stuhl zurückschieben. Die Sitzung war beendet.
»Ich hatte Sie doch gefragt, ob Ihnen Parallelismus ein Begriff ist, wissen Sie noch?« Bensimon hatte den Raum durchquert und stand nun direkt am Rande seines Blickfelds. Ein Schatten, der die Hand ausstreckte. Lysander schwang die Beine vom Diwan, stand auf und nahm das dargebotene Büchlein entgegen, das kaum umfangreicher war als eine Broschüre. Marineblauer Einband mit Silberschrift. Unsere Parallelleben. Eine Einführung, von Dr. J. Bensimon MB BS (Oxon).
»Ein Privatdruck. Gerade arbeite ich die vollständige Fassung aus. Mein Opus magnum. Nimmt leider ziemlich viel Zeit in Anspruch.«
Lysander drehte und wendete das Buch.
»Könnten Sie mir in ein paar Worten sagen, worum es geht?«
»Tja, das ist gar nicht so einfach. Gehen wir mal davon aus, dass die Welt an sich neutral ist – flach, leer, ohne jeden Sinn und Gehalt. Bis wir sie kraft unserer Vorstellung mit Farben, Gefühlen, Bedeutungen füllen. Wir machen die Welt lebendig. Haben wir das einmal begriffen, können wir unsere Welt nach Belieben selbst gestalten. Theoretisch.«
»Klingt sehr radikal.«
»Im Gegenteil – es ist sehr vernünftig, wenn man es nur richtig handhabt. Lesen Sie es, lassen Sie es auf sich wirken.« Er blickte Lysander forschend an. »Ich scheue mich ein wenig, das zu sagen, und es kommt sehr selten vor, dass ich eine solche Prognose wage, aber ich glaube, dass der Parallelismus Sie heilen wird, Mr Rief, das glaube ich wirklich.«
12 Andromeda
Am Tag von Udo Hoffs Vernissage war Lysander seltsam verunsichert. Er hatte schlecht geschlafen, und schon, als er sich am Morgen rasierte, fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut – er verspürte eine ganz und gar untypische Nervosität, wegen dieser anstehenden Vernissage, wegen des Wiedersehens mit Miss Bull. Er schäumte den Pinsel mit Rasierseife ein und trug sie auf Wangen, Kinn und um