Sophienlust Box 14 – Familienroman. Aliza Korten
Читать онлайн книгу.Dann kam ein Mittwoch, an dem Isolde von Rettwitz ans Telefon gerufen wurde. Sie nahm an, es sei Achim. Doch es war keine andere als Lieselott Engel, die sie sprechen wollte.
»Kann ich dich dort mal besuchen, Isolde? Ich hätte was mit dir zu besprechen«, erklärte Lieselott.
»Warum nicht? Aber kann man es nicht am Telefon erledigen? Der Weg ist ziemlich weit. Sogar Achim ist erst einmal hiergewesen.« Isolde legte auf eine Begegnung mit Lieselott keinen besonderen Wert.
»Es gibt nun mal Dinge, die sich besser mündlich erledigen lassen, Isolde. Glaubst du, dass du mich dort irgendwo unterbringen kannst?«
»Ja, ich denke im Gasthof, Lieselott. Das würde sich schon einrichten lassen. Aber ist es tatsächlich so wichtig? Mit deinem kleinen Wagen wird es eine Strapaze und kostet dich das ganze Wochenende.«
»Das lass nur meine Sorge sein, Isolde. Besorge mir also bitte eine Unterkunft von Samstag auf Sonntag. Ich kreuze irgendwann gegen Mittag dort auf. Bis dann, Isolde.«
Isolde legte auf. Sie fühlte sich wenig glücklich. Sicher meinte Lieselott es gut. Doch leider war sie die letzte Person, die verstehen würde, dass sie, Isolde, sich vor ihrem Haus und vor dem leeren Kinderbett jetzt noch mehr fürchtete als zuvor.
»Was ist, Frau von Rettwitz?« Denise von Schoenecker war ins Büro gekommen, wo Isolde noch neben dem Telefon stand. Ihr Gesicht drückte Verwirrung aus. Denises Frage war verständlich.
»Ich bekomme Besuch. Eine Freundin hat sich angesagt. Aber es wäre mir lieber, wenn sie nicht käme«, stammelte Isolde hilflos.
»Kommen Sie, bei einer Tasse Tee kann man besser plaudern«, schlug Denise heiter vor. Sie schob den Arm unter den von Isolde und führte die Jüngere ins Biedermeierzimmer. Im Vorbeigehen bat sie eines der jungen Mädchen, die im Haus für Ordnung sorgten, ihnen Tee und etwas Gebäck oder Toast und Butter zu bringen.
»Sie verwöhnen mich«, wehrte sich Isolde. »Ich bin ein völlig nutzloses Mitglied dieser Gemeinschaft.«
»Das finde ich durchaus nicht«, widersprach Denise herzlich. »Sie üben einen ausgesprochen guten Einfluss auf meinen Nick aus. Er neigte in letzter Zeit gelegentlich zu kleineren und größeren Flegeleien – das ist nun mal das Alter, in dem er sich befindet – aber seit Sie sich mit ihm beschäftigen, entwickelt er sich zu einem Gentleman.«
»Nick ist ein ungewöhnlicher Junge, Frau von Schoenecker«, erklärte Isolde warm. »Ich unterhalte mich sehr gern mit ihm. Dass er ein Raubein wäre, habe ich noch nie bemerkt. Sie haben ihn und Henrik sowie alle Kinder hier in Sophienlust erstaunlich gut erzogen.«
»Danke für das Kompliment. Unsere Kinder wissen, dass Geborgenheit und eine Heimat nicht Selbstverständlichkeiten sind. Fast jedes Kind hat irgendein schweres Schicksal hinter sich. So nehmen sie dankbar hin, was manche Kinder draußen kaum zu schätzen wissen. Wir achten darauf, dass sie das nicht vergessen. Wir bringen ihnen bei, an andere Menschen zu denken.«
Isolde hob die Hand. »An andere Menschen denken – sehen Sie, daran habe ich es fehlen lassen, Frau von Schoenecker«, rang es sich von ihren Lippen. »Ich habe mich nur mit mir selbst und dem Tod meines Kindes beschäftigt. Doch jetzt sehe ich plötzlich, was es für meinen Mann bedeutet haben muss, neben mir zu leben und niemals von mir beachtet zu werden. Dass es für ihn schwerer war als für mich, ist mir bis heute nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen.«
Es klopfte. Das junge Mädchen brachte den Tee. Erst als es wieder gegangen war und der Tee in den Tassen dampfte, sprachen die Frauen weiter.
»Ich möchte ganz neu beginnen, Frau von Schoenecker«, flüsterte Isolde mit bebender Stimme. »Glauben Sie, dass ich mich hier nützlich machen könnte?«
»Bei uns fehlt es ständig an helfenden Händen«, lächelte Denise. Sie war beglückt, dass ihr nun ein Vorstoß bei Isolde zu gelingen schien. »Ich weiß nicht, was Sie am liebsten täten. Wollen Sie in der Wirtschaft mit Hand anlegen oder lieber unmittelbar bei der Betreuung der Kinder? Wir zieren uns nämlich überhaupt nicht, wenn uns jemand seine Unterstützung anbietet.«
»Frau Rennert stöhnte neulich über die zerrissenen Wäschestücke. Ich bin ziemlich geschickt auf der Nähmaschine. Vielleicht könnte ich damit einen Anfang machen«, schlug Isolde vor, die nicht ahnte, dass Frau Rennert diesen Stoßseufzer mit voller Absicht in Hörweite des Hausgastes von sich gegeben hatte.
»Nun, da werden Sie sich sehr beliebt machen. Die Flickberge nehmen bei uns eigentlich nie ab. Manchmal lassen wir ein paar junge Frauen aus dem Dorf kommen, wenn es gar zu sehr überhandnimmt.«
»Also gut, ich werde gleich morgen früh anfangen«, beschloss Isolde.
»Fein! Und was ist mit Ihrer Freundin?«
»Ach so, Lieselott! Die hätte ich fast wieder vergessen. Ich werde mit ihr reden, wenn sie es will. Sie sagt, es sei wichtig.«
»Sie kann selbstverständlich hier übernachten«, bot Denise in ihrer gewohnten Gastfreundschaft an.
»Ich glaube, es ist ihr lieber, wenn sie im Gasthof bleiben kann«, entgegnete Isolde. »Wir haben es so ausgemacht.«
»Wie Sie wollen, liebe Isolde.« Denise nickte ihr zu. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns beim Vornamen rufen?«
»Wenn ich das darf? Sie … Sie sind sehr gütig zu mir. Ich verdiene das gar nicht.«
»Sie dürfen sich nicht ständig selbst mit Vorwürfen überhäufen, Isolde. Es ist keine Schande, wenn man von einem Schmerz tiefer getroffen wird als andere Menschen. Ich habe immer gewusst, dass Sie eines Tages zu sich selbst und damit auch zu Ihrer Umwelt zurückfinden würden. Sie sind jung. Das Leben hat Ihnen noch viel zu geben, auch wenn Ihnen das heute unmöglich erscheinen mag.«
»Ich habe nichts mehr zu erwarten, Denise«, widersprach Isolde scheu. »Aber ich möchte versuchen, wenigstens irgendetwas für andere zu tun, und sei es noch so wenig.«
*
Am Donnerstag und Freitag nähte Isolde emsig und brachte eine erstaunliche Menge an Flickarbeiten fertig. Frau Rennert bedankte sich begeistert und stellte fest, dass Isolde sorgfältiger und schneller arbeitete als manche andere Hilfskraft, die sich an dieser undankbaren Aufgabe schon versucht hatte.
Am Samstagmittag fuhr im gleißenden Sonnenschein Lieselotts roter Mini-Minor vor. Isolde, die Ausschau gehalten hatte, ging ihrer Freundin sofort entgegen und begrüßte sie freundlich.
»Lieb von dir, dass du diese weite Fahrt auf dich genommen hast, Lieselott. Ich habe dich im Dorfkrug einquartiert. Es ist zwar ländlich einfach, aber blitzsauber und sehr gemütlich. Wollen wir gleich hinfahren?«
Lieselott war von dem warmherzigen Empfang ein wenig überrascht. Seit Renatas Tod war ihr Isolde stets starr und mit deutlicher Zurückhaltung begegnet. Darauf hatte sie sich eingestellt gehabt.
»Ich habe unterwegs gegessen, Isolde, vielen Dank. Und auf den Gasthof bin ich jetzt noch nicht neugierig.«
»Dann komm ins Haus. Ich habe ein sehr gemütliches Zimmer. Eine Erfrischung kann ich dir auch anbieten.«
In der großen Diele trafen sie Frau Rennert. Isolde übernahm die Vorstellung.
»Setzen Sie sich bitte mit Fräulein Engel ins Biedermeierzimmer«, bot die Heimleiterin liebenswürdig an. »Ich lasse Ihnen etwas zu trinken bringen.«
Wenig später saßen die beiden Frauen in Denises Biedermeierzimmer.
»Toll ist es hier. Wie in einem Schloss«, stellte Lieselott ungeniert fest. Dann erzählte sie ein bisschen umständlich von ihrer Fahrt. Achim sei leider dienstlich in Hamburg. Das wisse sie ja wohl. Sonst wäre er vielleicht auch gekommen.
Isolde schüttelte den Kopf. »Ich wusste nicht, dass er in Hamburg ist, Lieselott. Wir telefonieren nur sehr selten miteinander. Und mit dem Schreiben haben wir es eigentlich nie gehabt. Was sollte ich auch von hier berichten?«
Lieselott holte tief Atem. Eben wollte