Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer

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Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer


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alle Handlungen ihren Ausgangspunkt nehmen.

      Der blinde Fleck, um den es hier geht, weist auf einen fundamentalen Aspekt in Management und Sozialwissenschaften hin. Er berührt ebenfalls unsere tägliche soziale Erfahrung. Während unserer täglichen Arbeit oder unserer täglichen sozialen Interaktionen sind wir uns normalerweise sehr dessen bewusst, was wir tun und was andere tun; wir verstehen auch einigermaßen, wie wir die Dinge tun, verstehen die Vorgehensweisen, mittels deren wir und andere handeln. Wenn wir jedoch fragen würden: »Was ist eigentlich der Quellpunkt, von dem aus wir tätig werden?«, so wären die meisten von uns wahrscheinlich nicht in der Lage, eine Antwort zu geben. Wir können die Quelle, von der aus wir aufmerksam sind und wirksam werden, nicht sehen; wir sind uns des Ortes, der den Ausgangspunkt unserer Aufmerksamkeit und Intention bildet, nicht bewusst.

      Nachdem ich die letzten zwei Jahrzehnte meiner professionellen Tätigkeit im Bereich des organisationalen Lernens verbracht habe, ist meine wichtigste Erkenntnis, dass es zwei unterschiedliche Quellen des Lernens gibt:

      •Lernen aus den Erfahrungen der Vergangenheit und

      •Lernen aus der im Entstehen begriffenen Zukunft.

      Ein paar Leute, denen ich die Idee einer zweiten Quelle des Lernens zunächst vorstellte, fanden, der Gedanke führe in die falsche Richtung. Der einzige Weg, zu lernen, argumentierten sie, sei der aus der Vergangenheit: »Otto, aus der Zukunft zu lernen ist nicht möglich. Verschwende deine Zeit nicht!« Aber als ich begann, mit Führungsteams aus unterschiedlichsten Sektoren und verschiedenen Industrien zu arbeiten, wurde mir klar, dass Leitungskräfte den aktuellen Herausforderungen der krisenhafte Zusammenbrüche (Disruption; vgl. Bild 3 und Beobachtung 2 im Vorwort zur Neuauflage) gar nicht genügen können, wenn sie sich nur auf der Basis vergangener Erfahrungen bewegen.

       Eintreten in das Feld

      Ein Feld ist, wie jeder Landwirt weiß, ein komplexes, lebendes System – ebenso wie die Erde insgesamt ein lebendiger Organismus ist.

      Ich bin auf einem Bauernhof in der Nähe von Hamburg aufgewachsen. Eines der ersten Dinge, die mir mein Vater, ein Pionier der biodynamischen Landwirtschaft in Europa, beibrachte, war, dass die lebendige Qualität des Bodens die wichtigste Sache in der biologischen Landwirtschaft überhaupt ist. Jedes Feld, so erklärte er mir, hat zwei Seiten: die sichtbare, also das, was wir oberhalb der Erde sehen, und die unsichtbare oder das, was unter der Oberfläche ist. Die Qualität der Ernte – das sichtbare Resultat – ist eine Funktion der Qualität des Ackerbodens, also derjenigen Elemente des Feldes, die für das Auge weitgehend verborgen bleiben.

      Meine Überlegungen im Hinblick auf soziale Felder setzen genau an diesem Punkt an: dass (soziale) Felder die Grundvoraussetzung für produktive soziale Beziehungen sind. Und so, wie jeder gute Landwirt unablässig seine Aufmerksamkeit dem Erhalt und der Verbesserung der Bodenqualität widmet, so sollte jede gute Führungskraft einer Organisation ihre Aufmerksamkeit auf den Erhalt und die Verbesserung der Qualität des sozialen Feldes lenken – gewissermaßen auf den Mutterboden des betreffenden sozialen Systems, in dem jeder verantwortlich Führende und Changemaker tagein, tagaus arbeitet.

      Jeden Sonntag nahmen meine Eltern mich, meine Brüder und meine Schwester mit auf einen Feldgang über alle Äcker und Felder unseres Hofes. Hin und wieder blieb mein Vater stehen, um aus einer Ackerfurche einen Klumpen Erde aufzuheben, sodass wir ihn untersuchen und die unterschiedlichen Typen und Strukturen sehen lernen konnten. Die Qualität der Erde, erklärte er, hängt von einer ganzen Masse lebender Mikroorganismen ab – Millionen lebender Organismen, die jeden Kubikzentimeter Erde bevölkern und beleben und deren Arbeit existenziell dafür ist, dass die Erde atmen und sich als lebendes System entwickeln kann.

      Wie jedoch können wir uns einem bewussteren und klareren Sehen dieses tieferen Terrains annähern?

       Der archimedische Punkt

      Wo liegt der strategische Hebelpunkt, der es ermöglicht, die Struktur eines sozialen Feldes umzuschmelzen, umzustülpen? Wo liegt der archimedische Punkt – die Bedingung der Möglichkeit –, durch den sich das globale soziale Feld verändern ließe?

      Für meinen Vater war das sonnenklar. Wo setzt man seinen »Hebel« an? An der Erde. Man konzentriert sich darauf, kontinuierlich die Qualität der Humusschicht zu verbessern. Jeden Tag. Der fruchtbare Humus ist eine dünne Schicht lebender Substanzen, die sich durch die ineinander verschlungene Verwebung zweier Welten entwickelt: des sichtbaren Reichs an der Erdoberfläche und des unsichtbaren Terrains darunter. Die Begriffe Kultur und Kultivierung haben ihren Ursprung in der Ausübung genau dieser Tätigkeit. Landwirte kultivieren den Humus, indem sie die Verbindung zwischen den beiden Welten vertiefen.

      Wo liegt der Hebelpunkt im Falle des sozialen Feldes? An genau der gleichen Stelle: an der Schnittstelle und der Verbindung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Schicht des sozialen Feldes. Der fruchtbare »Humus« der Organisation entsteht dann, wenn diese beiden Welten sich begegnen, verbinden und miteinander verflechten.

      Was entspricht dann, im Falle der sozialen Felder, der sichtbaren Welt? Das ist, was wir tun, sagen, spüren und sehen. Das soziale Handeln, wie es von einer Kamera eingefangen und dokumentiert werden kann. Und was ist die unsichtbare Schicht des sozialen Werdens? Es ist die innere Verfassung, von der aus die Teilnehmenden einer Situation handeln. Es ist die entspringende Quelle all dessen, was wir tun, sagen, spüren und sehen. Nach Bill O’Brien ist dies der entscheidende Punkt, auf den es für jede Initiative, jede Führungskraft


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