Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer

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Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer


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oder innere Ort, an dem unsere Aufmerksamkeit und unsere Intention generiert werden und in die Welt kommen.

      In Teil I dieses Buches, »Begegnung mit dem blinden Fleck«, werde ich argumentieren, dass wir über die Ebenen, Systeme und Sektoren hinweg letztlich alle mit dem gleichen Problem konfrontiert werden: Die Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, erfordern es, uns des inneren Standortes, von dem aus wir agieren, bewusst zu werden und ihn zu verändern. Konsequenterweise müssen wir lernen, gegenüber beiden Dimensionen gleichzeitig aufmerksam zu werden:

      •gegenüber dem, was wir sagen, sehen, spüren und tun (unserer sichtbaren Dimension), und

      •gegenüber dem inneren Ort, von dem aus wir wirken (unserem unsichtbaren Terrain, von dem her unsere Aufmerksamkeit und unsere Intention in die Welt kommen).

      Ich nenne den vermittelnden Bereich, der diese beiden Dimensionen miteinander verbindet, die Feldstruktur der Aufmerksamkeit. Sie ist das funktionale Äquivalent des Humus in der Landwirtschaft, indem sie beide Dimensionen des Feldes verknüpft.

      Die gemeinsame Gegenwärtigung unserer Feldstruktur der Aufmerksamkeit – das heißt, das gemeinsame Gewahrwerden des inneren Ortes, von dem aus wir agieren – könnte der zentrale Hebelpunkt sein, durch den das soziale Feld in unserem Jahrhundert verwandelt werden kann, da es den einzigen Punkt unseres gemeinsamen Bewusstseins darstellt, über den wir vollständige Kontrolle haben. Denn die gemeinsam hervorgebrachte Struktur der Aufmerksamkeit ist ganz klar von uns fabriziert, d. h., wir können die Urheberschaft auf keinen anderen abschieben. Sobald wir diesen Punkt zu sehen in der Lage sind, können wir ihn als Hebel für praktische Veränderung nutzen. Er ermöglicht uns, anders zu handeln. In dem Ausmaß, in dem es uns gelingt, unsere Aufmerksamkeitsstruktur und ihre Quelle zu sehen, können wir das System verändern. Doch dafür müssen wir den inneren Ort, von dem aus wir handeln, verändern.

       Das Umschmelzen und Umstülpen der Struktur unserer Aufmerksamkeit

      Das Wesen von Führung besteht darin, sich dieses blinden Flecks bewusst zu werden und dann den inneren Ort, von dem aus wir handeln, auf individueller ebenso wie auf kollektiver Ebene zu verändern.

      Der Boden auf den Feldern meines Vaters reichte von flach bis tief. Entsprechend gibt es auch in unseren sozialen Feldern fundamental unterschiedliche Aufmerksamkeitsschichten (Feldstrukturen), die sich ebenfalls von flach bis tief erstrecken. Die Feldstruktur der Aufmerksamkeit bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Beobachter und Beobachtetem. Sie betrifft die Qualität, mit der wir uns zur Welt in Beziehung setzen. Diese Qualität variiert abhängig von dem Ort oder der Position, von der aus unsere Aufmerksamkeit in die Welt kommt, relativ zu der organisationalen Grenze des Beobachters.

      Durch meine Forschung, die zum vorliegenden Buch geführt hat, habe ich vier unterschiedliche Orte oder Positionen gefunden, die jeweils eine andere Qualität oder Feldstruktur der Aufmerksamkeit hervorbringen:

      •Ich-in-mir: was ich wahrnehme, ausgehend von meinen üblichen Seh- und Denkgewohnheiten

      •Ich-in-es: was ich wahrnehme, wenn meine Sinne und mein Denken weit geöffnet sind und ich neu hinsehe

      •Ich-in-dir: auf was ich mich von innen heraus einstimme und was ich wahrnehme, wenn mein Denken und mein Herz weit geöffnet sind

      •Ich-in-wir und Ich-in-Gegenwärtigung: was ich erkenne, wenn ich vom Grund dessen, was entstehen will, her sehe, wenn ich meine Aufmerksamkeit mit offenem Fühlen, Denken und Willen zuwende

      Die vier Feldstrukturen unterscheiden sich im Hinblick auf den Ort, von dem aus die Aufmerksamkeit (und die Intention) in die Welt kommt: Gewohnheiten, offenes Denken, offenes Fühlen bzw. offener Wille. Jedes Handeln einer Person, einer Leitungskraft, einer Gruppe, einer Organisation oder einer Gemeinschaft kann auf diese vier Weisen hervorgebracht werden.

      Um diese Unterscheidung zu verdeutlichen, schauen wir uns das Beispiel »Zuhören« an. In den Jahren meiner Arbeit mit Gruppen und Organisationen habe ich vier Grundtypen des Zuhörens identifiziert:

      1) »Ist schon klar, weiß ich schon.«

      Der erste Typ des Zuhörens ist das Runterladen: zuhören, indem man die eigenen Denkgewohnheiten wieder bestätigt. Wenn Sie in einer Situation sind, wo alles, was passiert, bestätigt, was Sie eh schon wussten, dann hören Sie im Downloading-Modus zu.

      2) »Oh, jetzt sieh dir mal das an!«

      Der zweite Typ des Zuhörens ist der des faktenbezogenen oder objektfokussierten Zuhörens: Man hört zu, indem man seine Aufmerksamkeit auf Fakten und auf neue oder unerwartete Daten lenkt. Bei dieser Art des Zuhörens achten Sie auf das, was sich von dem unterscheidet, das Sie bereits wissen. Ihr Zuhören wandert weg davon, der eigenen inneren Stimme des Urteilens zuzuhören, hin zu einem Hören der Fakten, die direkt vor Ihnen stehen. Sie beginnen, wach zu werden gegenüber der sich Ihnen offenbarenden Realität, die sich von Ihrer Vorstellungswelt (Downloading) unterscheidet. Objektfokussiertes oder faktenbezogenes Zuhören ist der Grundmodus guter Wissenschaft. Sie stellen Fragen und beobachten sorgfältig, welche Antworten Ihnen z. B. die Natur gibt.

      3) »Oh ja, ich weiß, wie du dich fühlst.«

      Die dritte, nochmals tiefere Schicht des Zuhörens ist das empathische Zuhören. Wenn wir uns auf einen wirklichen Dialog einlassen, können wir, sofern wir darauf achten, eine grundlegende Veränderung des Ortes wahrnehmen, von dem aus unser Zuhören stattfindet. Solange wir mit den ersten beiden Typen des Zuhörens arbeiten, kommt das Zuhören von innerhalb der Grenzen unserer eigenen mentalen oder kognitiven Organisation. (Das Zuhören findet dann also von unserem Kopfsystem her statt.) Wenn wir jedoch empathisch zuhören, verschiebt sich unsere Wahrnehmung. Wir verlassen den Modus des Starrens auf eine dinghafte Welt und wechseln in die Innenwelt eines Lebewesens, eines lebenden Systems und dessen Selbst hinein. Um dies zu können, müssen wir ein bestimmtes Instrument aktivieren und stimmen: das Zuhören mit dem Herzen, das heißt die empathische Fähigkeit, sich direkt in einen anderen Menschen oder eine Gruppensituation hineinzuversetzen. Wenn das gelingt, empfinden wir eine tiefe innere Umschichtung, fast so, als ob ein Schalter umgelegt würde; wir vergessen unsere eigenen Vorhaben und beginnen wahrzunehmen, wie sich die Welt aus der Sicht eines anderen entfaltet. In diesem Modus fühlen wir meistens, was die andere Person sagen will, bevor sie es in Worte gefasst hat. Und dann können wir möglicherweise erkennen, ob eine Person das richtige oder das verkehrte Wort für etwas, das sie ausdrücken möchte, gewählt hat. Dieses Urteil ist jedoch nur möglich, wenn wir einen direkten Eindruck haben von dem, was jemand sagen möchte, bevor wir analysieren, was er tatsächlich sagt. Empathisches Zuhören ist eine Fähigkeit, die wie jede andere Fähigkeit im Bereich menschlicher Beziehungen kultivierbar ist und entwickelt werden kann. Es ist eine Kompetenz, die von uns die Aktivierung einer anderen Intelligenz abverlangt – der Intelligenz des Herzens.

      4) »Ich kann das, was ich erlebe, nicht in Worte fassen. Mein ganzes Sein hat sich verlangsamt. Ich fühle mich ruhiger, gegenwärtiger und mehr wie ich selbst. Ich bin mit etwas Größerem als mit mir selbst verbunden.«

      Das ist die vierte Ebene des Zuhörens. Sie verlagert den Ort des Zuhörens über das derzeitige Feld hinaus und verbindet sich mit einem noch tieferen Bereich der Emergenz. Ich bezeichne diese Ebene des Zuhörens als schöpferisches Zuhören oder Zuhören aus dem entstehenden Zukunftsfeld her. Diese Ebene des Zuhörens erfordert von uns, dass wir einen Zugang finden zu unserem offenen Herzen und zu unserem offenem Willen – also unserer Fähigkeit, uns mit der höchsten Zukunftsmöglichkeit, die entstehen will, zu verbinden. Auf dieser Ebene konzentriert sich unsere Arbeit darauf, das (alte) Selbst loszulassen, um Platz für eine Lichtung zu machen, durch die sich eine andere Zukunftsmöglichkeit vergegenwärtigen kann. Wir suchen nicht mehr nach etwas, das sich außerhalb von uns befindet. Wir sind nicht mehr nur empathisch gegenüber jemandem, der uns jetzt gegenübersitzt. Wir befinden


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