Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer

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Theorie U - Von der Zukunft her führen - C. Otto Scharmer


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2, S. 18.

       Teil I: Begegnung mit dem blinden Fleck

      Was sehen wir, wenn wir menschliche Handlung beobachten? Wir sehen Sprechen, Lachen, Weinen, Streiten, Spielen, Tanzen, Beten. Was wir nicht sehen, ist der Entstehungsort dieser Handlungen. Wo entstehen unsere Handlungen? Von welchem Ort, im Innern oder aus unserem Umkreis, rühren sie her? Um diese Frage zu beantworten, hilft es uns, die kreative Tätigkeit eines Künstlers genauer zu betrachten. Das lässt sich aus drei Blinkwinkeln heraus tun:

      •Als Erstes können wir auf das Resultat der künstlerischen Arbeit schauen, das Ding, das fertige Bild etwa.

      •Zweitens können wir beim Malen zuschauen: Wir können den farbigen Pinselstrichen folgen, die gerade im Begriff sind, das Kunstwerk zu erschaffen.

      •Oder wir können, drittens, beobachten, wie der Künstler vor der leeren Leinwand steht. Es ist diese dritte Perspektive, die die Leitfrage dieses Buches ist: Was passiert vor der leeren Leinwand? Was veranlasst den Künstler zum ersten Pinselstrich?

      Dieses Buch hier ist für Menschen mit Führungsaufgaben geschrieben, also für Leserinnen und Leser, die mit Individuen oder Gruppen Innovationen oder Veränderungsprozesse initiieren, mithin in diesem Sinne künstlerisch tätig sind. Alle Führungspersonen und Innovatoren, sei es in Unternehmen, lokalen Projekten, gemeinnützigen Organisationen oder im Staatsdienst, tun etwas, was Künstler auch tun: Sie schaffen etwas Neues und bringen es in die Welt. Die offene Frage aber lautet: Woher kommen ihre Handlungen? Wir können beobachten, was Führungspersonen machen. Wir können auch beobachten, wie sie es tun, welche Strategien und Prozesse sie anwenden. Was wir nicht sehen, ist der innere Ort, die Quelle, aus der heraus sie handeln, wenn sie – zum Beispiel – auf höchstmöglichem Niveau agieren oder umgekehrt ohne Einsatz und Engagement handeln.

      Das führt uns zum »blinden Fleck«. Dieser blinde Fleck betrifft einen Aspekt unseres Sehens oder Wahrnehmens, den wir normalerweise nicht genauer betrachten. Es ist der innere Ort oder die innere Quelle, aus der heraus der Einzelne oder ein soziales System handelt. Dieser blinde Fleck ist tagtäglich in allen Systemen gegenwärtig, aber er ist verdeckt, und seine Wahrnehmung und unser Umgang mit diesem blinden Fleck sind wesentlich für Veränderungs- und Innovationsprozesse.

      Francisco J. Varela, verstorbener Professor für kognitive Wissenschaft und Epistemologie in Paris, sagte mir, der blinde Fleck der heutigen Wissenschaft sei Erfahrung. Dieser blinde Fleck tritt in vielfältiger Weise auf, was ein zentrales Thema unseres weiteren »Feldgangs« und unserer »gemeinsamen Lernreise« sein wird.

      Die folgenden sieben Kapitel beschreiben sieben Sichtweisen in Bezug auf die verschiedenen Ausgestaltungen dieses blinden Flecks und erkunden, wie er als Merkmal unserer Zeit in Gesellschaft, Wissenschaft und im systemischen Denken sichtbar wird. Blinde Flecke treten bei Individuen, Gruppen, Institutionen, Gesellschaften und Systemen auf. In unseren Theorien und Vorstellungen treten sie in der Form tiefer epistemologischer und ontologischer Grundannahmen in Erscheinung.

      Ich lade Sie ein, gemeinsam mit mir verschiedene Bereiche dieses blinden Flecks zu erforschen. Wir beginnen mit der Perspektive des Selbst, dann der des Teams (Kapitel 3), der Organisation (Kapitel 4), der Gesellschaft (Kapitel 5) und abschließend in den Sozialwissenschaften und zuletzt der Philosophie (Kapitel 6).

       1Im Angesicht des Feuers

      Als ich an diesem Morgen unseren Hof verließ, einen 350 Jahre alten Bauernhof 40 Kilometer nördlich von Hamburg, ahnte ich nicht, dass dies das letzte Mal ist, dass ich das Haus meiner Kindheit sehe. Zunächst war es ein ganz normaler Schultag bis etwa gegen 13 Uhr, als meine Lehrerin mich aus der Klasse holte. »Du solltest jetzt nach Hause gehen, Otto.« Ich bemerkte, dass ihre Augen etwas rot waren. Sie sagte mir nicht, warum ich schnell nach Hause gehen musste. Am Bahnhof angekommen, versuchte ich zu Hause anzurufen. Es war kein Klingelton zu hören. Die Leitung war offensichtlich tot. Ich hatte keine Ahnung, was los war. Mir wurde dann allerdings klar, dass es wahrscheinlich nichts Gutes verhieß. Nach der üblichen einstündigen Bahnfahrt nach Hause rannte ich zum Bahnhofsausgang und sprang in ein Taxi. Irgendwas sagte mir, dass ich keine Zeit hatte, auf meinen Bus zu warten. Noch lange bevor wir den Hof erreicht hatten, bemerkte ich, wie sich riesige graue und schwarze Rauchwolken hoch in die Luft türmten. Mein Herz pochte, als das Taxi sich der Hofeinfahrt näherte. Ich sah Hunderte unserer Nachbarn, daneben Feuerwehrleute aus der Umgebung und Polizisten sowie viele Menschen, die ich bis dato nie gesehen hatte. Ich sprang aus dem Taxi und rannte die letzten 800 Meter unsere Kastanienallee hinunter durch die Menge hindurch.

      Als ich im Innenhof ankam, traute ich meinen Augen nicht. Die Welt, in der ich mein ganzes Leben bisher verbracht hatte, existierte nicht mehr. Verschwunden. Komplett in Rauch aufgegangen.

      Vom Haus war nichts – gar nichts – mehr übrig, außer den tobenden Flammen. Als die Realität des Feuers vor meinen Augen langsam begann, in mich einzusinken, fühlte ich mich so, als hätte mir jemand mit einem Mal den Boden unter meinen Füßen weggerissen. Der Ort meiner Geburt, meiner Kindheit und Jugend war weg. Ich stand regungslos da. Und während mein Blick immer tiefer in die Flammen drang, merkte ich, dass die Zeit sich verlangsamte. Mir war, als ob sie stillzustehen begann. Mir wurde schlagartig klar, wie sehr ich mich, ohne es vorher zu bemerken, über die ganze materielle Welt definiert hatte, die jetzt vor meinen Augen in Flammen stand. Alles, von dem ich dachte, dass ich es war, hatte sich schlagartig in nichts aufgelöst. Alles? Nein, vielleicht nicht alles, denn ich fühlte, dass ein winziges Element von mir noch existierte. Jemand war noch da, der dies jetzt alles beobachtete. Wer?

      In diesem Moment, als die Zeit stillzustehen schien, fühlte ich, wie ich nach oben gezogen wurde und anfing, das Geschehen von diesem Ort etwas oberhalb meines Körpers zu erspüren. Ich fühlte mich angezogen von einem intensiven Möglichkeitsraum, von einem zukünftigen Potenzial, das ich durch mein Leben in die Realität bringen könnte. In diesem Moment der Stille erlebte ich eine mir bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannte Klarheit und gesteigerte Anwesenheit meiner Aufmerksamkeit, meines Selbst. Mir wurde klar, dass das alte Selbst, dessen Identität mit dem materiellen Besitz aus der Vergangenheit in Flammen aufgegangen war, nicht mein wirkliches Selbst war. Mein wirkliches Selbst war plötzlich viel erlebbarer und gegenwärtiger als je zuvor. Ich fühlte mich nicht mehr beschwert von den materiellen Besitztümern, die das Feuer gerade verzehrt hatte. Ohne sie war ich viel leichter und offen dafür, dem anderen Teil meines Selbst zu begegnen, dem Teil, der mich in die Zukunft zog, in eine Zukunft, die mich erwartete, die mich brauchte, damit sie durch mich in die Welt kommen konnte.

      Am nächsten Tag kam mein 87-jähriger Großvater zu einem letzten Besuch auf den Hof. Er hatte in diesem Haus sein ganzes Leben gelebt, seit 1890. Aufgrund von medizinischen Behandlungen war er eine Woche vor dem Feuer außer Haus gewesen, und als er einen Tag nach dem Feuer auf dem Hof ankam, raffte er all seine Kräfte zusammen, stieg aus dem Auto und ging schnurstracks auf meinen Vater zu, der mit Aufräumarbeiten beschäftigt war. Er ging zu meinem Vater, nahm seine Hand und sagte: »Kopf hoch, mein Junge, blick nach vorn!« Sie wechselten noch einige Worte. Dann drehte er sich um, ging zum wartenden Auto zurück und wurde zurückgefahren. Wenige Tage später verstarb er sanft.

      Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass meine Erfahrung angesichts des Feuers der Anfang eines Weges war. Meines Weges. Dieser Weg fing an mit der Erkenntnis, dass ich nicht nur ein Selbst besitze, sondern zwei: Das eine Selbst reflektiert unseren vergangenen Weg; das andere, unser werdendes Selbst, erleben wir als ein Sich-hinein-Lehnen in unseren zukünftigen Weg, in einen Möglichkeitsraum, der auf uns wartet, um in die Welt zu kommen. Was an jenem Tag angesichts des Feuers geschah, lässt sich vielleicht so verstehen, dass diese zwei


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