Theorie U - Von der Zukunft her führen. C. Otto Scharmer

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zeichnete die Hauptpunkte, die sich aus dem Gespräch mit Brian Arthur ergaben, ein (Abb. 2.3) und zeigte dies Joseph.

       Abb. 2.3: Drei Bewegungen des U

      Wir erkannten, dass wir auf etwas sehr Bedeutsames gestoßen waren. Es folgte eine Phase intensiver Präzisierung, Verdichtung und Überarbeitung des Bezugsrahmens. Meine gemeinsame Arbeit mit Joseph hat mich vieles darüber gelehrt, was es bedeutet, als Individuum aus dieser tieferen Quelle des Wissens heraus zu arbeiten. Seine Lebensgeschichte, die er in seinem Buch Synchronizität schildert, veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise, wie der Einzelne diese tiefere Quelle der Kreativität erschließen kann. Die sich nun anschließende Frage lautete: Was muss eine Gruppe, eine Organisation oder eine Institution tun, um auf einer ähnlichen Ebene zu handeln (vgl. Scharmer et al. 2002)? Die Suche nach der Antwort wurde unsere Mission (Senge et al. 2004).

       Das Gespräch mit Francisco Varela über den blinden Fleck in den Kognitionswissenschaften

      Im Anschluss an das Gespräch mit Brian Arthur zeigte ich verschiedenen Gesprächspartnern die Zeichnung mit den drei Bewegungen durch das U. Über dieses Muster »Hinschauen – gehe zum inneren Ort der Stille – und handele unmittelbar aus dem so entstehenden Impuls« sagten mir viele Menschen: »Das kommt mir bekannt vor. Ich habe das bei kreativen Menschen beobachtet. Ich habe das auch in kreativen Momenten meines eigenen Lebens gesehen.« Aber dann, wenn ich sie fragte: »Okay, und wie sehen deine Arbeit und dein Leben in deinem gegenwärtigen Kontext und deiner gegenwärtigen Organisation aus?«, lautete die Antwort: »Nein, da ist es anders. Da ist es eher so wie dieses Runterladen.« Viele Menschen kennen diesen tieferen Ort der Kreativität, doch in unserer täglichen Arbeit, vor allem im Kontext größerer Institutionen, scheint es uns unmöglich, daran anzuknüpfen. Wir bleiben in unseren alten Mustern des Runterladens verfangen. Warum?

      Weil wir ein genaueres Bild dieses Prozesses brauchen, mehr als nur diese drei Stufen (Abb. 2.3). Wir brauchen eine Karte, die uns die Schwellen und Stolpersteine zeigt, wo der Prozess des »Hinschauen, hinschauen« gegen die Wand läuft. Mit diesen Gedanken im Gepäck reiste ich nach Paris, um den Kognitionsforscher Francisco Varela zu interviewen. Zu dieser Zeit arbeitete ich an einem Forschungsprojekt, das von Michael Jung, damals einer der Direktoren von McKinsey & Company, gesponsert wurde. Als ich Varela 1996 das erste Mal getroffen hatte, hatte er von dem blinden Fleck in der Kognitionsforschung gesprochen:

      »Was die Qualität von Erfahrung betrifft, so gibt es einen nicht weiter reduzierbaren Kern, dessen Erforschung einer Methode bedarf. Das Problem ist nicht, dass wir zu wenig über das Gehirn und die Biologie wissen. Das Problem liegt darin, dass wir nicht genug über Erfahrung wissen. […] Wir haben im Westen einen blinden Fleck für diese Art des methodischen Ansatzes. Alle meinen, über die Erfahrung genau Bescheid zu wissen. Ich behaupte, dass wir darüber nicht genug wissen.«

      Als ich im Januar des Jahres 2000 wieder in seinem Büro saß, war mir nicht bewusst, dass dies unser letztes Treffen sein würde. Ich glaube, dass Francisco Varela einer der bedeutendsten und vielversprechendsten Kognitionsforscher unserer Zeit war – er starb 2001. Ich berichtete ihm, sein Konzept des blinden Flecks sei bei vielen Lesern auf Resonanz gestoßen, und fragte ihn, ob er sich weiter mit diesem Thema befasst habe. Es habe seither im Mittelpunkt seiner Forschungen gestanden, antwortete er. Er erklärte, seine jüngste Arbeit sei der Frage gefolgt, die er in unserem ersten Gespräch angesprochen hatte: wie wir uns unserer Erfahrung bewusst werden. Um dies zu erforschen, hatte er drei Ansätze identifiziert, die sich auf diese Thematik beziehen: psychologische Introspektion, Phänomenologie und kontemplative Praktiken wie Meditation.

      »Was haben alle drei gemeinsam? Was war die Grundlage dafür, dass die deutschen Denker in den 1880er Jahren ihre kreative Art der Introspektion betreiben konnten oder die Erben des Buddha Shakyamuni im 5. oder 4. Jahrhundert v. Chr. die Techniken des Samatha schaffen konnten oder jemand wie Husserl eine ganz neue Denkschule der Phänomenologie hervorbrachte? Was haben diese Prozesse hinsichtlich menschlicher Erfahrung gemeinsam? Was liegt ihnen zugrunde? Es geht darum, wie man achtsam und aufmerksam werden kann.«

      Drei Jahre lang hatte Varela an dem posthum erschienenen Buch namens On Becoming Aware (Aufmerksam werden; Depraz, Varela a. Vermersch 2003) gearbeitet. Er stellte darin die Frage: »Kann dieser Kernprozess als Fähigkeit kultiviert werden?« Wenn diese drei Traditionen als Praktiken betrachtet werden, so erklärte er mir, muss man als Erstes die – in Ermangelung eines besseren Begriffs – reine Erste-Person-Perspektive unterscheiden von dem, was das Individuum an der Schnittstelle zwischen der ersten und der zweiten Person tut. Was die erste Person betrifft, so lässt sich dieser Prozess besser mit drei Gesten des Aufmerksamwerdens beschreiben. Diese drei Gesten sind:

      1) innehalten (»suspension«),

      2) umwenden (»redirection«) und

      3) loslassen (»letting-go«).

       Drei Gesten auf der linken Seite des U

      Varela beschrieb diesen Prozess mit den drei Gesten als etwas, was jeder kennt:

      »Aber ebenso wie ein Läufer trainieren muss, um ein Marathonläufer zu werden, braucht ein Verstehen und ein Meistern dieses Prozesses Zeit und Coaching.«

      Wir fuhren fort, diese drei Gesten zu besprechen. Varela erklärte:

      »Mit Innehalten meine ich das Beenden von Gewohnheitsmustern. In der buddhistischen Meditation platzierst du deinen Hintern auf ein Kissen und bleibst auf einer Ebene oberhalb deiner gewöhnlichen Beschäftigung. Du schaust aus einer eher überblickenden Perspektive.«

      Wir diskutierten weiter und überlegten, wie viele Menschen, die sitzend meditieren, behaupten, dass nichts passiere. Warum?

      »Sinn und Zweck der ganzen Sache ist, dass du es nach dem Innehalten erträgst, dass nichts passiert. Innehalten ist eine eigenartige Sache. Dabei zu bleiben, dranzubleiben ist wirklich der entscheidende Punkt, um den es geht.«

      Dann erläuterte er seine zweite und dritte Geste: umwenden und loslassen. Beim Umwenden (»redirection«) geht es darum, die Aufmerksamkeit von einem »Äußeren« zu einem »Inneren« umzulenken, sodass die Aufmerksamkeit hin zum Ursprungsort der inneren Prozesse geleitet wird und nicht zum Objekt hin. Die dritte Geste, das Loslassen, muss mit Feingefühl erfolgen, betonte Varela. Im Buch On Becoming Aware (Depraz, Varela a. Vermersch 2003) wird die dritte Geste mit »unsere Erfahrung akzeptieren« umschrieben.

      Als ich aus Varelas Büro trat, wusste ich, dass ich beschenkt worden war. Häufig hatte ich bei der Moderation von Prozessen mit Teams oder in Workshops gesehen, dass Wendepunkte notwendig waren, wollte man zu einem tieferen Punkt der Kreativität kommen. In meiner Erfahrung ist dazu ein erster Schritt, mitgebrachte Urteile zu durchbrechen, damit die Teilnehmenden die Realität – und das schließt manchmal die einfachsten Zahlen und Fakten ein – überhaupt wahrnehmen können. Ein weiterer Schritt besteht darin, als Gruppe die Aufmerksamkeit von Einzelperspektiven weg und hin zum Ganzen zu wenden, damit das System aus einer Perspektive betrachtet werden kann, aus der die eigenen Handlungen als Teil des Ganzen wahrgenommen werden können. Dann fangen die Menschen an, sich selbst als Teil des Problems zu sehen; sie fangen an zu erkennen, wie sie gemeinsam ein Muster erschaffen, das anfangs allein durch äußere Kräfte verursacht schien.

      Wenn ein Prozess gut läuft, dann ist ein Punkt erreicht, an dem gemeinsam zu einem tieferen Ort der Stille gegangen werden kann. An diesem Punkt kann das Alte losgelassen werden, es kann nach der zukünftigen Möglichkeit gefragt und eine Verbindung zur höheren Intention hergestellt werden. Als ich meine Arbeitserfahrungen mit den Erkenntnissen aus


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