Die Rückkehr des Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle
Читать онлайн книгу.nicht genügt, die Schroffheit seines Wesens zu glätten oder seine Ungeduld mit einer weniger regen Intelligenz als der seinen zu mildern.
»Natürlich hat er sich bewegt«, sagte er. »Als ob ich ein so lächerlicher Stümper wäre, Watson, eine offensichtliche Attrappe aufzustellen und zu erwarten, einer der scharfsinnigsten Männer Europas würde sich davon täuschen lassen! Wir sind jetzt zwei Stunden in diesem Zimmer, und Mrs. Hudson hat jene Gestalt achtmal umgerückt, das heißt, alle Viertelstunden einmal. Sie macht das von vorne, so daß ihr Schatten nie gesehen werden kann. Ah!« Er machte einen heftigen aufgeregten Atemzug. In dem trüben Licht sah ich seinen Kopf nach vorne gereckt, seine ganze Haltung starr vor Konzentration. Die Straße draußen war vollkommen verlassen. Jene beiden Männer mochten noch immer in dem Eingang kauern, doch konnte ich sie nicht mehr sehen. Alles war ruhig und finster, bis auf die eine strahlend gelbe Fensterscheibe vor uns mit der schwarzen Silhouette in der Mitte. Wieder vernahm ich in der absoluten Stille jenen dünnen zischenden Laut, der von äußerster unterdrückter Aufregung kündete. Einen Augenblick später zog er mich in die schwärzeste Ecke des Zimmers zurück, und ich spürte seine warnende Hand auf meinen Lippen. Die Finger, die mich umklammert hielten, zitterten. Nie hatte ich meinen Freund in erregterem Zustand gekannt, und doch lag die dunkle Straße noch immer einsam und bewegungslos vor uns.
Plötzlich aber gewahrte ich, was seine schärferen Sinne schon längst bemerkt hatten. Ein leises verstohlenes Geräusch drang an meine Ohren, und zwar nicht von der Baker Street her, sondern aus dem hinteren Teil eben des Hauses, in welchem wir uns verborgen hielten. Eine Tür ging auf und wieder zu. Einen Augenblick darauf schlichen Schritte den Gang entlang – Schritte, die leise sein sollten, die aber laut durch das leere Haus hallten. Holmes kauerte sich mit dem Rücken zur Wand, und ich tat desgleichen; meine Hand schloß sich um den Griff meines Revolvers. Ich starrte in das Dämmerlicht und sah den verschwommenen Umriß eines Mannes, der noch einen Hauch schwärzer war als die Schwärze der offenen Tür. Dort blieb er kurz stehen, um dann gebückt und bedrohlich in das Zimmer zu schleichen. Seine finstere Gestalt war keine drei Yards von uns entfernt, und ich hatte mich gewappnet, seinem Ansprung zu begegnen, bis ich erkannte, daß er von unserer Anwesenheit keine Ahnung hatte. Er ging dicht an uns vorbei, stahl sich zum Fenster und schob es sehr sachte und geräuschlos einen halben Fuß hoch. Als er sich auf die Höhe dieser Öffnung niederbeugte, fiel das nun nicht mehr von dem verstaubten Glase getrübte Licht der Straße voll auf sein Gesicht. Der Mann schien außer sich vor Erregung. Seine Augen glommen wie zwei Sterne, und krampfhaft arbeiteten seine Züge. Er war ein älterer Mann mit einer dünnen hervorspringenden Nase, hoher kahler Stirn und einem gewaltigen grauen Schnauzbart. Seinen chapeau claque hatte er auf den Hinterkopf geschoben, und aus seinem offenen Mantel schimmerte ein Frackhemd hervor. Sein Gesicht war hager, dunkelhäutig und von tiefen wilden Furchen durchzogen. In einer Hand trug er etwas, das ein Stock zu sein schien; doch als er es auf den Boden legte, ertönte ein metallisches Geräusch. Dann zog er einen sperrigen Gegenstand aus seiner Manteltasche und machte sich damit zu schaffen, was mit einem lauten, scharfen Klicken endete, als ob eine Feder oder ein Bolzen eingeschnappt wäre. Noch immer auf dem Boden kniend beugte er sich vor und drückte mit seinem ganzen Gewicht und aller Kraft auf irgendeinen Hebel, worauf ein langgezogenes, wirbelndes knirschendes Geräusch entstand, das wiederum mit einem kräftigen Klicken endete. Dann richtete er sich auf, und ich sah, daß er eine Art Gewehr mit sonderbar unförmigem Kolben in der Hand hielt. Er öffnete den Verschluß, steckte etwas hinein und ließ das Schloß zuschnappen. Dann kauerte er sich nieder und legte das Ende des Laufs auf den Sims des offenen Fensters, und ich sah seinen langen Schnauzbart über den Schaft fallen und sein Auge funkeln, als er durch das Visier spähte. Ich hörte einen kurzen Seufzer der Befriedigung, als er den Kolben an seine Schulter drückte und jene erstaunliche Zielscheibe, den schwarzen Mann auf gelbem Hintergrund, deutlich über dem Korn stehen sah. Einen Augenblick lang verharrte er starr und reglos. Dann spannte sich sein Finger um den Abzug. Es folgte ein seltsames lautes Schwirren, dann das langgezogene silbrige Klirren von splitterndem Glas. In diesem Moment sprang Holmes wie ein Tiger dem Schützen in den Rücken und warf ihn flach aufs Gesicht. Der aber kam gleich wieder hoch und packte Holmes mit krampfhafter Kraft bei der Kehle. Doch ich hieb ihm den Kolben meines Revolvers auf den Kopf, und er fiel wieder auf den Boden. Ich stürzte mich auf ihn, und während ich ihn festhielt, stieß mein Genosse ein gellendes Pfeifsignal aus. Auf dem Pflaster ertönte das Getrappel heraneilender Füße, und dann kamen zwei Polizisten in Uniform und ein Detektiv in Zivil durch den Vordereingang und ins Zimmer gerannt.
»Sind Sie es, Lestrade?« fragte Holmes.
»Ja, Mr. Holmes. Ich habe die Sache selbst in die Hand genommen. Schön, Sie wieder in London zu sehen, Sir.«
»Ich denke, Sie benötigen ein wenig inoffizielle Hilfe. Drei unentdeckte Morde in einem Jahr – das geht nicht, Lestrade. Aber das Molesey-Rätsel haben Sie nicht mit der Ihnen eigenen – soll heißen, Sie haben es recht ordentlich behandelt.«
Wir hatten uns alle erhoben, unser Gefangener stand schwer atmend zwischen zwei stämmigen Polizisten. Schon hatten sich auf der Straße ein paar Bummelanten zu sammeln begonnen. Holmes trat ans Fenster, machte es zu und zog die Jalousien herunter. Lestrade hatte zwei Kerzen hervorgeholt und die Polizisten ihre Lampen enthüllt. Endlich war ich in der Lage, mir unseren Gefangenen eingehend zu betrachten.
Es war ein äußerst männliches und doch finsteres Gesicht, das sich uns zuwandte. Mit der Stirn eines Philosophen oben und dem Kinn eines Lüstlings unten, mußte der Mann mit großen Talenten für das Gute oder das Böse begonnen haben. Doch konnte man seine grausamen blauen Augen mit ihren hängenden zynischen Lidern oder seine böse aggressive Nase und die bedrohliche gefurchte Stirn nicht ansehen, ohne darin die deutlichsten Gefahrensignale der Natur zu erblicken. Er nahm von keinem von uns Notiz, sein Blick war einzig auf Holmes' Gesicht geheftet, mit einem Ausdruck, in dem Haß und Erstaunen zu gleichen Teilen gemischt waren. »Sie Teufel!« murmelte er fortwährend. »Sie schlauer, schlauer Teufel!«
»Ah, Colonel!« sagte Holmes, indem er seinen verknüllten Kragen ordnete. »›Wie sich mal wieder Herz zum Herzen findet5‹, wie es in dem alten Stück heißt. Ich glaube nicht, daß ich das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, seit Sie mich mit jenen Aufmerksamkeiten bedachten, als ich auf dem Vorsprung über dem Reichenbach-Fall lag.«
Der Colonel starrte meinen Freund noch immer wie in Trance an. »Sie listiger, listiger Teufel!« war alles, was er sagen konnte.
»Ich habe Sie noch nicht vorgestellt«, sagte Holmes. »Dies, Gentlemen, ist Colonel Sebastian Moran, dereinst bei der Indischen Armee Ihrer Majestät und der beste Großwildjäger, den unser Östliches Empire je hervorgebracht hat. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Beute an Tigern noch immer unübertroffen ist?«
Der wütende Alte sagte nichts, sondern starrte unverwandt und trotzig meinen Gefährten an. Mit seinen wilden Augen und dem borstigen Schnurrbart sah er selbst einem Tiger erstaunlich ähnlich.
»Mich wundert, daß meine so simple List einen so alten shikari6 täuschen konnte«, sagte Holmes. »Sie muß Ihnen doch vertraut sein. Haben Sie nie ein Zicklein unter einem Baum angebunden, oben mit Ihrer Büchse gelegen und darauf gelauert, daß der Köder Ihnen den Tiger heranlocke? Dies leere Haus ist mein Baum, und Sie sind mein Tiger. Sie hatten vermutlich noch weitere Gewehre in Reserve, falls mehrere Tiger auftauchen sollten, oder in der unwahrscheinlichen Annahme, Sie könnten Ihr Ziel verfehlen. Dies« – er wies umher – »sind meine anderen Gewehre. Die Parallele ist vollkommen.«
Colonel Moran sprang mit einem wütenden Knurren vor, doch die Polizisten zogen ihn zurück. Die Wut auf seinem Gesicht war schrecklich anzusehen.
»Ich gestehe, daß Sie mir eine kleine Überraschung bereitet haben«, sagte Holmes. »Ich habe nicht vorausgesehen, daß Sie sich dieses leere Haus und dieses praktische Vorderfenster zunutze machen würden. Ich hatte mir vorgestellt, Sie würden von der Straße aus operieren, wo mein Freund Lestrade und seine munteren Männer Ihrer harrten. Von dieser Ausnahme abgesehen, lief alles so, wie ich erwartet habe.«
Colonel Moran wandte sich an den amtlichen Detektiv.
»Sie mögen einen gerechten Grund für meine Verhaftung haben oder nicht«, sagte er, »aber zumindest kann