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Читать онлайн книгу.kannte. Sein Name war mir vertraut, da meine Eltern vor vielen Jahren mit ihm bekannt waren, aber sie verloren sich aus den Augen. Ich war daher sehr überrascht, als er gestern gegen drei Uhr nachmittags in mein Stadtbüro trat. Noch mehr aber erstaunte ich, als er mir den Zweck seines Besuchs berichtete. Er hielt mehrere Blätter aus einem Notizbuch in der Hand, die über und über vollgekritzelt waren – hier sind sie –, und legte sie auf meinen Tisch.
›Dies ist mein Testament‹, sagte er. ›Ich wünsche, Mr. McFarlane, daß Sie es in die richtige juristische Form bringen. Während Sie dies tun, werde ich hier sitzenbleiben.‹
Ich machte mich daran, es abzuschreiben, und Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich merkte, daß er, mit einigen Vorbehalten, sein ganzes Vermögen mir vermacht hatte. Er war ein merkwürdiger, kleiner, frettchenhafter Mann mit weißen Wimpern, und als ich zu ihm aufblickte, sah ich seine scharfen grauen Augen mit amüsiertem Ausdruck auf mich geheftet. Ich konnte kaum meinen Sinnen trauen, nachdem ich die Testamentsbedingungen gelesen hatte; doch er erklärte, er sei Junggeselle und habe kaum lebende Verwandte, er habe in seiner Jugend meine Eltern gekannt und von mir stets als einem sehr verdienstvollen jungen Mann sprechen hören, und er sei davon überzeugt, sein Geld ginge in würdige Hände über. Ich konnte natürlich nur meinen Dank hervorstammeln. Das Testament wurde ordnungsgemäß abgeschlossen, unterzeichnet und von meinem Buchhalter beglaubigt. Dies hier auf dem blauen Papier ist es, und diese Zettel sind, wie gesagt, der Rohentwurf. Mr. Jonas Oldacre unterrichtete mich dann von einer Anzahl Dokumente – Grundstückspachten, Besitzurkunden, Hypothekenbriefe, Interimswechsel und so weiter –, die ich sehen und verstehen müßte. Er sagte, er könne erst wieder ruhig sein, wenn das Ganze geregelt sei, und er bat mich, noch diese Nacht zu seinem Haus in Norwood hinauszukommen, das Testament mitzubringen und die Sache abzumachen. ›Denken Sie daran, mein Junge, kein Wort über diese Angelegenheit zu Ihren Eltern, ehe nicht alles geregelt ist. Wir wollen es als eine kleine Überraschung für sie aufsparen.‹ Er bestand sehr auf diesem Punkt und ließ es mich ausdrücklich versprechen.
Sie können sich vorstellen, Mr. Holmes, daß ich nicht in der Stimmung war, ihm irgendeine Bitte abzuschlagen. Er war mein Wohltäter, und ich war durchaus bestrebt, seine Wünsche in allen Einzelheiten zu erfüllen. Ich schickte daher ein Telegramm nach Hause, in dem ich mitteilte, ich hätte ein wichtiges Geschäft vor und könne unmöglich sagen, wann ich heimkehren würde. Mr. Oldacre hatte mir gesagt, er würde gern um neun Uhr mit mir zu Abend essen, da er vor dieser Zeit wahrscheinlich nicht zu Hause wäre. Ich hatte jedoch einige Schwierigkeiten, sein Haus zu finden, und es war schon fast halb zehn, als ich dort eintraf. Ich fand ihn –«
»Einen Augenblick!« sagte Holmes. »Wer öffnete die Tür?«
»Eine mittelaltrige Frau, vermutlich seine Haushälterin.«
»Und es war sie, nehme ich an, die Ihren Namen angegeben hat?«
»In der Tat«, sagte McFarlane.
»Fahren Sie bitte fort.«
Mr. McFarlane fuhr sich über die feuchte Stirn und setzte dann seinen Bericht fort:
»Diese Frau führte mich in ein Wohnzimmer, in dem ein schlichtes Mahl vorbereitet war. Danach führte Mr. Oldacre mich in sein Schlafzimmer, worin sich ein schwerer Safe befand. Diesen öffnete er und entnahm ihm einen Packen Dokumente, die wir zusammen durchgingen. Zwischen elf und zwölf wurden wir damit fertig. Er bemerkte, daß wir die Haushälterin nicht stören dürften. Er brachte mich durch seine Verandatür nach draußen, welche die ganze Zeit über offengestanden hatte.«
»War die Jalousie herabgelassen?« fragte Holmes.
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie war nur halb unten. Ja, ich erinnere mich, wie er sie hochzog, um die Verandatür aufzumachen. Ich konnte meinen Stock nicht finden, und er sagte: ›Lassen Sie nur, mein Junge; ich werde Sie ja jetzt häufig sehen, hoffe ich, und ich werde Ihren Stock aufbewahren, bis Sie wiederkommen und ihn zurückhaben wollen.‹ So verließ ich ihn, der Safe stand offen, und die Papiere lagen in Päckchen geordnet auf dem Tisch. Es war so spät, daß ich nicht mehr nach Blackheath zurückfahren konnte; und so verbrachte ich die Nacht im Anerley Arms, und weiter erfuhr ich nichts, bis ich heute morgen von dieser schrecklichen Sache las.«
»Haben Sie noch weitere Fragen, Mr. Holmes?« sagte Lestrade, dessen Brauen im Verlauf dieser bemerkenswerten Erklärung ein paarmal in die Höhe gegangen waren.
»Erst wenn ich in Blackheath gewesen bin.«
»Sie meinen: in Norwood«, sagte Lestrade.
»Oh, ja: das muß ich zweifellos gemeint haben«, sagte Holmes mit seinem rätselhaften Lächeln. Lestrade wußte aus mehr Erfahrungen, als er einzuräumen gewillt war, daß jenes rasiermesserscharfe Hirn Dinge zu durchschneiden vermochte, die für das seine undurchdringlich waren. Ich sah, wie er meinen Gefährten neugierig anblickte.
»Ich denke, ich sollte bald mal mit Ihnen reden, Mr. Sherlock Holmes«, sagte er. »Nun, Mr. McFarlane, vor der Tür stehen zwei meiner Beamten, und draußen wartet eine Droschke.« Der elende junge Mann erhob sich, warf uns einen letzten flehentlichen Blick zu und ging aus dem Zimmer. Die Polizisten brachten ihn zu der Kutsche, aber Lestrade blieb noch.
Holmes hatte die Blätter, die den Rohentwurf des Testamentes enthielten, aufgehoben und betrachtete sie mit äußerst gespannter Miene.
»Es gibt einiges zu diesem Dokument zu bemerken, Lestrade, nicht wahr?« sagte er und schob ihm die Zettel zu.
Der Beamte sah sie verwirrt an.
»Ich kann nur die ersten Zeilen lesen, und diese hier in der Mitte der zweiten Seite, und ein paar am Schluß. Die stehen da wie gedruckt«, sagte er; »aber dazwischen ist die Schrift sehr undeutlich, und an drei Stellen kann ich überhaupt nichts lesen.«
»Was schließen Sie daraus?« fragte Holmes.
»Nun, was schließen Sie daraus?«
»Daß es in einem Zug geschrieben wurde; die leserliche Schrift steht für Bahnhöfe, die unleserliche für Fahrt, und die völlig unleserliche für das Überfahren von Weichen. Ein gewiefter Fachmann würde sofort erklären, daß diese Aufzeichnungen in einer Vorstadtbahn entstanden sind, da es nur in der unmittelbaren Umgebung einer großen Stadt eine so rasche Folge von Weichen geben kann. Nehmen wir an, die Niederschrift des Testaments habe die gesamte Fahrzeit in Anspruch genommen, dann war es ein Schnellzug, der nur einmal zwischen Norwood und London Bridge gehalten hat.«
Lestrade begann zu lachen.
»Das ist mir zu hoch, wenn Sie mit Ihren Theorien anfangen, Mr. Holmes«, sagte er. »Was hat denn das mit diesem Fall zu tun?«
»Nun, es bestätigt die Geschichte des jungen Mannes insoweit, als das Testament von Jonas Oldacre gestern auf seiner Fahrt geschrieben wurde. Ist es nicht verwunderlich, daß jemand ein derart wichtiges Dokument auf so willkürliche Weise niederschreibt? Dies legt nahe, daß er nicht glaubte, es würde von sonderlich praktischer Bedeutung sein. So könnte jemand ein Testament schreiben, von dem er nicht glaubt, daß es jemals in Kraft treten würde.«
»Nun, er schrieb damit zugleich sein eigenes Todesurteil«, sagte Lestrade.
»Oh, meinen Sie?«
»Sie nicht?«
»Nun, durchaus möglich; aber der Fall ist mir noch nicht klar.«
»Nicht klar? Na, wenn das nicht klar ist, was könnte denn klarer sein? Plötzlich erfahrt ein junger Mann, daß er ein Vermögen erben wird, wenn ein älterer Mann stirbt. Was macht er da? Er erzählt niemandem davon, sondern richtet es so ein, daß er unter irgendeinem Vorwand seinen Klienten noch in derselben Nacht besuchen kann; erwartet, bis die einzige andere Person im Haus zu Bett gegangen ist, und ermordet den Mann sodann in der Abgeschiedenheit seines Zimmers, verbrennt die Leiche auf dem Holzstapel und entschwindet in ein nahegelegenes Hotel. Im Zimmer und auch auf dem Stock befinden sich nur sehr geringe Blutspuren. Vermutlich hatte er sich vorgestellt, sein Verbrechen ginge unblutig vonstatten, und gehofft, mit der Verbrennung der Leiche alle Spurender Art seines Todes verbergen zu können – Spuren,