Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells. Andreas Suchanek

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Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek


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zurück an Sensei Yamamoto. Sein langer weißer Bart, der sich wie ein gefärbter Fluss bis zum Boden schlängelte. Seine hagere Gestalt, die Arme dünn wie morsches Geäst. Doch zog er sein Katana, wurde er zu einem wirbelnden Sturm, dem niemand standzuhalten vermochte.

      Damals hatte es begonnen.

      Aus dem Mädchen war eine Kriegerin geworden.

      Anfangs hatten sie noch ihr Aussehen gelobt. Die alabasterfarbene Haut, das lange schwarze Haar, das bezaubernde Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

      Später war es die Kunst gewesen, mit der sie das Pferd an den Zügeln davonpreschen ließ. Die Genauigkeit, mit der sie einen Pfeil durch ein gefärbtes Blatt schoss. Ihre fließenden Bewegungen beim Kenjutsu, wenn sie das Schwert führte und niemals verlor.

      Und doch, das hatte sie erst viel später begriffen, war sie stets ein Instrument gewesen. Sie hatte das Haupt gebeugt und gedient. Blut vergossen, flammende Pfeile abgefeuert und die Klinge geführt, um Haut zu teilen.

      Das Leben brachte Weisheit, doch ebenso unweigerlich den Tod.

      Mit einundneunzig Jahren war Tomoe noch immer in Bewegung, studierte Schriften und meditierte. Das Ende glitt jedoch auf sie zu wie der Meistersamurai aus den Schatten.

      Gegen diesen Feind konnte sie kein Katana führen, keinen Pfeil schießen, kein Pferd besteigen und davonreiten. Er fand sie überall.

      Tomoe trat aus der Pagode und stellte sich in den Wind. In ihren Händen hielt sie eine Schale mit feinem Grüntee. Es war der dritte Aufguss. Sie sog den Duft des Blattes ein, trank mit vorsichtigen Schlucken.

      Die Luft war warm, doch der Wind hatte aufgefrischt. In der Ferne verdunkelte sich der Himmel. Mit einem Mal lag die Spannung in der Luft, die sie so sehr liebte. Pure Kraft, die davorstand, sich zu entladen. Die Gewalten der Natur, die den Menschen verdeutlichte, dass sie keine Götter waren.

      Es war schön.

      Und grausam.

      Tomoe schritt zurück zum Haupthaus, den Körper kerzengerade, den Rücken durchgestreckt. Ihr Kimono flatterte. Auf ihn gestickt waren Zeichen des Schutzes. Das Kleidungsstück war das Geschenk eines alten Freundes, der längst gegangen war. Doch während sie ein gewöhnlicher Mensch war, hatte er zu jenen gehört, die Magie in sich trugen.

      Gerade noch rechtzeitig erreichte sie den Eingang und trat hinein. Schon fielen die ersten Regentropfen, wurde der Sturm zu einem Raubtier, das seine Wut hinausbrüllte.

      »Ich respektierte dich«, sagte sie leise.

      Das Holz unter ihren Füßen knirschte, als sie nach oben stieg und ihr Zimmer betrat.

      Sie wusste, dass es soweit war.

      Das Alter brachte das Ende.

      Etwas in ihr erzitterte, als strich eine Feder über ihre Seele.

      »So mögen andere die Geschichte gestalten, durch Krieg und Diplomatie«, flüsterte sie.

      Tomoe Gozen, Onna Bugeisha, Kriegerin unter der blutigen Sonne, ergab sich dem Ruf der Ewigkeit.

      Eine Melodie umfing sie, so sanft und erhaben, dass Tränen unter ihren bereits geschlossenen Lidern auf die Wangen rannen. Sie weinte ein letztes Mal.

      Die Zitadelle hieß sie willkommen.

      Und ihre Wacht begann.

      I

      Die Apparatur

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2:Kapitel 1

      1942

      Ein Blitz zuckte.

      Welch ein Hohn, ausgerechnet.

      Ally packte ihren Bruder und zerrte ihn zwischen die Ruinen. Wie war es möglich, dass die verdammten Krauts es hierhergeschafft hatten? Was taten sie hier, in diesem Küstenstädtchen, weitab von allen wichtigen Angriffspunkten?

      »Sie haben uns gesehen«, hauchte Harry angsterfüllt.

      Was das bedeutete, musste er nicht erst sagen. Die vier trugen Gewehre.

      Schüsse peitschten.

      Es war gespenstisch, fast surreal. Der Horizont war tiefschwarz, Blitze zuckten bereits, doch kein Donner erklang. Der Sturm war auf dem Weg, aber bis jetzt nicht hier. Wie ein Stillleben wirkte das Meer, so ruhig, die tintige Schwärze, die Spannung in der Luft. Als hielte die Welt den Atem an, im Angesicht des Schreckens.

      »In die Ruine!«, befahl Ally.

      Ihr Bruder stolperte voran.

      Die Welt verwandelte sich mit jedem Tag etwas mehr in die Hölle. Deutschland befand sich im eisernen Griff einer grauenvollen Ideologie. Spanien ächzte unter Franko. Italien hatte Mussolini. Der Faschismus hielt Europa im Würgegriff.

      England hielt sich tapfer, doch wurde zunehmend bedrängt. Dass die vier Nazis ungesehen die Küste erreicht hatten, sprach Bände.

      »Der Horchposten«, hauchte Harry.

      Seine Stimme klang dumpf in der Kirchenruine.

      »Vermutlich«, sagte Ally nur.

      Das Dorf wirkte unscheinbar, doch sie wusste, dass es einen Horchposten gab, der den Funk der Deutschen auffing und nach London weiterleitete. Dort waren die besten Codeknacker am Werk. Wie gerne hätte Ally etwas dazu beigetragen, den Krieg zu entscheiden. Doch sie besaß keinerlei Fähigkeiten, die nützlich hätten sein können. Im Gegenteil.

      Hatte ihre Anwesenheit die Nazis erst hierhergeführt?

      »Denkst du, sie hauen wieder ab, wenn sie uns nicht finden?«, fragte Harry.

      »Das können die sich kaum leisten«, zerstörte Ally seine Hoffnung. »Wir könnten sie verraten.«

      Außerdem sagte man den Deutschen nicht umsonst nach, gründlich und effektiv zu sein. Sogar im Töten waren sie das.

      »Nach unten!« Sie deutete auf die Steintreppe.

      Ihre Verfolger waren nicht zu hören, doch ein stetiges Tasten in ihrem Inneren ließ Ally aufhorchen. Sie konnte die vier Männer spüren. Auf eine Art, die sie nicht in Worte zu fassen vermochte, es noch nie gekonnt hatte.

      Doch es war nicht das erste Mal.

      Dass sie nicht längst in einem Sanatorium gelandet war – einem, das sich um Hysterie kümmerte –, war dem Krieg geschuldet. Beginnend mit dem Tod ihrer Eltern, dann dem ihres Onkels, den Bomben und hassverzerrten Fratzen, die nach Blut und Macht gierten.

      »Sie kommen«, flüsterte Ally.

      Harrys Augen weiteten sich. Sein schwarzes Haar klebte vor Schweiß an der Kopfhaut. Die sanften braunen Augen wirkten müde, er hatte den Mut verloren. Immer wieder starrte er ins Nichts, hing seinen Gedanken nach und gab auf ihre Fragen keine Antwort. Wenn sie erneut nachhakte, tat er es. Doch der einzige Antrieb war Selbsterhaltung. Der erlöschende Funke, der nach dem Leben schrie.

      »Ich habe nichts gehört«, sagte er fast flehend.

      Die letzte Stufe – und sie standen im Keller. Dämmerlicht lag über allem, Schächte in der Wand gingen bis an die Oberfläche, gerade groß genug, um Tageslicht hereinzulassen. Der Putz war feucht, in der Luft lag der typische Geruch von Moder und Schimmel. Halbrund gehauene Durchgänge führten von einem Zwischengang ab in einzelne Kammern.

      Ally machte einen Schritt und taumelte.

      Da war es erneut.

      Etwas in ihr bewegte sich. Das Bild blitzte auf. Ein Symbol, das beständig waberte und Farbe erzeugte. Die Hysterie kehrte zurück. Wie vor zwanzig Jahren, als sie sechs gewesen war. Mit ihm waren die abenteuerlichsten Geschichten in ihrem Geist erschienen. Bewegungen, Worte, Symbole. Ein lebhafter Kindergeist war zu so etwas fähig.

      Hätte sie Harry erzählt, dass es dieses innere Wabern


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