Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells. Andreas Suchanek

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Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2: Auf der Suche nach H. G. Wells - Andreas Suchanek


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sollte ein Verkäufer mit den wertlosen Klumpen anfangen?«

      Ally verstand immer weniger, was hier vor sich ging. Die Geschichte ähnelte in keiner Form jener in den Büchern. War das hier vielleicht ein separierter Teil von Frankreich, der erst später durch einen Krieg die Regeln des Rests übernommen hatte? Oftmals schrieben die Sieger die Geschichte um.

      »Wir kommen gerne mit«, sagte Ally.

      »Ma petit magicienne, du hast keine Wahl.« Rousele zwinkerte.

      Sie war auf seltsame Art freundlich, aber auch aufdringlich. Forsch, doch liebenswert. Wie eine Kanonenkugel, auf die jemand ein Lächeln gemalt hatte.

      Die französische Magierin führte sie durch die Straßen und Gassen von Paris, vorbei an der Seine und über Brücken. Die Geschäfte wandelten sich, ebenso die Häuser. Der Müll verschwand von den Straßen, und eine gute Stunde später schritten sie über Gehsteige, die mit weißem Gestein ausgekleidet waren.

      »Hier ist es so sauber«, flüsterte Ally.

      »Natürlich, wir sind doch keine der Ordinären«, stellte Rousele klar. »Unsere Magier achten auf Reinheit.«

      »Aber wieso nicht für die ganze Stadt?«, fragte Harry.

      »Das würde unseren Wert schmälern«, erklärte Rousele, wenn auch nicht so offen wie Ally gegenüber. »Die Währung dieser Stadt ist – wie überall auf der Welt – Bernstein. Wir Magier befüllen ihn mit Essenz, damit auch die Ordinären Magie wirken können. Bieten wir unser Können aber frei an, würde doch niemand mehr Bernsteine benötigen.«

      Magie war also etwas Kostbares, das irgendwie mit Bernsteinen auch an Nichtmagier gegeben werden konnte.

      »Wieso reinigen die ›Ordinären‹ dann nicht ihre Straßen damit?«, fragte Harry.

      »Wenn ich dir Magie übergebe, genug für einen Zauber, vielleicht zwei: Würdest du sie dafür benutzen, die Straßen zu säubern?«

      Harry dachte kurz nach, schüttelte aber verstehend den Kopf. »Auf keinen Fall.«

      Ally begriff, dass sie plötzlich zu einem privilegierten Kreis gehörte. Ihr Können war kostbar.

      Sie wollte mehr erfahren.

      Schweigend ging Harry neben ihr her.

Das Erbe der Macht - Die Chronik der Archivarin 2:Kapitel 4

      Das Haus des Rates erwies sich als prunkvoller Bau. Er lag am weitesten Punkt entfernt vom hiesigen Palast des Königs und bildete damit einen zweiten Pfeiler der Macht in der Stadt.

      Ally starrte überwältigt auf das gewaltige Bauwerk aus weißem Stein, das aus einem Dutzend Häusern zusammengesetzt worden war. Ein Gebäude ging in das nächste über. Ringsum war ein simpler Zaun angebracht, doch das Metall schimmerte leicht. Symbole waren darauf zu erkennen. Hinter der Barriere standen dicke Pfeiler aus Bernstein, die golden glühten.

      Sie sah Männer und Frauen auf Pferden, wunderschöne Wälder und lachende Gesichter.

      So viel Unbeschwertheit und Luxus hatte sie noch nie zuvor gesehen. Hier schienen der allgegenwärtige Kampf, das Blut, Bomben und Hass nicht zu existieren.

      Unweigerlich fragte sie sich, ob die Französische Revolution auch die Kluft zwischen den Magiern geöffnet hatte. Oder genauer: eines Tages öffnen würde.

      »Ich werde einem der Ratsmitglieder eine Nachricht überbringen«, erklärte Rousele. »Nach der Katastrophe von Glamis Castle wird es aber wohl einige Zeit dauern, bis jemand hier ist. Hoffentlich kommt Kleopatra, ich finde sie wahrlich erfrischend.«

      »Kleopatra«, echote Harry. »Ist das vielleicht … ein Künstlername?«

      Rousele wirkte verwirrt. »Ich verstehe die Frage nicht.«

      »Was ist denn in Glamis Castle passiert?«, fragte Ally schnell.

      »Es ist wahrlich eine seltsame Geschichte. Wir erhielten eine Warnung von Kleopatra. Der Hauptsitz des Rates wurde angegriffen, sie nutzte die Türübergänge mithilfe der Archivarin dazu, alle Bewohner zu evakuieren. Kurz darauf zerriss ein Zauber das Gebäude. Niemand kam zu Tode. Nur die da Vincis sind noch etwas mitgenommen, ihr Sohn ist gestorben.«

      »Die da Vincis?«, krächzte Harry.

      »Ich meine natürlich Leonardo da Vinci und Johanna von Orleans«, erklärte Rousele und winkte ab. »Für mich sind das nur die da Vincis.«

      »Klar«, Harry lachte auf. »Total verständlich.«

      Rousele hob ihren Essenzstab. »Ouvre.«

      Das Tor öffnete sich.

      Gemeinsam betraten sie einen geschwungenen Weg aus weißem Gestein, der von frisch geschnittenem Rasen umgeben war. Farbige Blüten reckten ihre Kelche gen Himmel.

      »Es ist wunderschön«, hauchte Ally.

      Wie konnte es nur sein, dass so viele Menschen im Dreck dahinvegetierten, während andere in diesem Prunk lebten? Und das einfach aufgrund von Zufall. Schicksal? Oder wählte jemand die Erben aus, die ›Noveau Magiciens‹?

      »Sollte ich aufgrund meiner Verdienste für die magische Welt eines Tages zur Unsterblichen werden, dann hoffe ich auf ein vernünftiges Alter«, sprach Rousele weiter. »Nicht wie bei der armen Johanna von Orleans. Da stirbt sie als siebzehnjährige Jungfrau und kommt als Scheintote wieder. Vierzig, das muss man sich mal vorstellen.« Sie schüttelte den Kopf. »Leonardo hatte da mehr Glück. Diese Muskeln und der Bart. Und dabei starb er am Alter.« Erst jetzt schien sie zu realisieren, dass weder Ally noch Harry ihr folgen konnten. »Habt ihr überhaupt nichts von der Welt um euch herum mitbekommen?«

      »Wir lebten sehr abgeschieden«, erklärte Ally.

      »Und doch sehe ich keinen Kontaktstein«, Rousele deutete auf ihre Brust, wo ein geschliffener Stein am Lederband hing. »Ich spreche eure Sprache, dank Magie. Doch ihr seid fließend des Französischen mächtig.«

      »Zweisprachig aufgewachsen«, erklärte Ally.

      »Vor dem Tod von …«

      Harry hatte eindeutig vergessen, ob Mutter oder Vater gestorben waren.

      »Es ist schmerzhaft«, sagte Ally daher schnell. »Aber wir sind dankbar für die uns vergönnte Zeit.«

      Rousele marschierte auf die Flügeltüren zu und öffnete diese schwungvoll. Sie mochte einen nonchalanten Eindruck machen, doch hinter der Fassade verbarg sich ein wacher Verstand. Ally mahnte sich zur Vorsicht und schickte einen entsprechenden Blick zu ihrem Bruder, der glücklicherweise zu begreifen schien und schwieg.

      Sie betraten die Halle.

      Die Gemälde an den Wänden bildeten alle grimmig dreinblickende Männer oder Frauen ab, die magische Stäbe in Händen hielten. Das Wort Essenzstab kam von ganz alleine. Ein paar davon wirkten auf Ally vage vertraut.

      Harry stand vor dem Bild einer jungen Frau. Sie hatte hohe Wangenknochen und ebene Gesichtszüge, die Haut war von einem tiefen Braun. »Ist das …«

      »Kleopatra«, erklärte Rousele. »Ganz so weit muss es nicht zurückgehen. Sie kam wirklich sehr jung ins Leben zurück.«

      »Wir werden bestimmt gleich aufwachen«, hauchte Harry.

      »Und im Sterben liegen«, ergänzte Ally. »Anders kann ein solches Delirium nicht zustande kommen.«

      Rousele bedeutete Harry, in einer gemütlichen Sitzecke im ersten Stock zu warten. In diesem Fall stand Sitzecke für einen Bereich, der so groß war wie ihr altes Wohnzimmer.

      Als Ordinärer durfte er nicht mehr weitergehen.

      Ally dagegen sollte jetzt irgendeinem Magier vorgeführt werden, der ihre Kraft einschätzte. Was immer das bedeuten mochte.

      Sie betraten einen Raum, der an eine Schreibstube erinnerte. Hinter einem hohen Podest saß ein


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