Letzter Weckruf für Europa. Helmut Brandstätter
Читать онлайн книгу.erstmalige und deshalb so faszinierende Projekt, nach dem ewigen Kriegsgeschehen, das in zwei Weltkriegen gipfelte, eine Zone des Friedens zu gründen. Dennoch werden die EU und Europa im Folgenden manchmal synonym gebraucht werden, weil die EU bestimmend für die Zukunft Europas ist und sich auch Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz an der Union und ihrem Binnenmarkt orientieren. Übrigens: Der Schweiz ist der Zugang zum Binnenmarkt der 27 EU-Länder viel wert. Sie zahlt rund 2 Milliarden Euro jährlich an die EU. Das ergibt sich aus Verträgen, die der Eidgenossenschaft Zugang zum EU-Binnenmarkt erlauben. Ein Zusammenhang ist völlig klar: Wenn die EU zerstört wird, dann wird das Leben in Europa wieder unsicherer und der Wohlstand wird in allen europäischen Ländern schrumpfen, nicht nur in den EU-Mitgliedstaaten. Das wissen auch die Schweizer Politikerinnen und Politiker, die der EU nicht beitreten wollen, aber auf eine starke Union setzen.
Auch innerhalb der EU sind die Unterschiede groß: Der Luxemburger Juncker glaubt an einen Lernprozess, an dessen Ende die europäischen Staaten geeinter auf künftige Herausforderungen reagieren werden. Sie könnten das gemeinsam besser als die Nationalstaaten allein, wie er im April 2020 in einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard sagte. Es gab und gibt aber auch die zu erwartenden gegenteiligen Stimmen, wonach die EU an allem schuld sein musste, was nicht funktioniert. Als in der ersten Märzwoche an der deutsch-österreichischen Grenze Lastwagen mit medizinischer Schutzausrüstung festgehalten wurden, protestierte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz und meinte, die EU müsse sich nach der Krise „eine kritische Auseinandersetzung gefallen lassen“. Derselbe Kurz, der zuvor selbst Grenzschließungen angeordnet hatte.
Die Europäische Union wird sich in den kommenden Jahren verändern, so viel steht fest. Aber wie? Werden wir mehr Solidarität und Gemeinsamkeit erleben – oder den Weg zurück zu den Nationalstaaten gehen? Diese können dann im besten Fall eine mehr oder weniger erfolgreiche Zollunion etablieren. Vielen, die jetzt den neuen Nationalismus herbeireden wollen, mit recht platten Worten, aber sehr tiefgehenden Emotionen, ist hoffentlich nicht bewusst, dass sie mit dem Feuer künftiger Konflikte oder gar Kriege spielen, sonst wäre ihr Bemühen noch schlimmer. Das Szenario, das die Folge des neuen Nationalismus wäre: ein zersplittertes Europa, in der Mitte das ökonomisch starke Deutschland mit mehr als 80 Millionen Einwohnern, dazu im Osten Europas Länder mit einer verblassenden Demokratie, viele junge Menschen in den Balkanstaaten ohne Perspektive, eine verstärkte Verarmung nicht nur in den südlichen Ländern, überall steigende Arbeitslosigkeit, ein aggressiver türkischer Präsident, dazu Islamisten, die auf dem Balkan immer aktiver werden und schließlich ein global engagiertes China, das zunehmend die Infrastruktur der EU kontrolliert und dadurch die Union spaltet. Dieses explosive Gemisch wäre eine Traumkonstellation für politische Zündler. Das wäre der Anfang vom Ende des friedlichen Europas, wie wir es kennen. Das und nicht weniger steht auf dem Spiel.
Um die drohenden Konsequenzen einer solchen Konstellation zu verstehen, muss man bei jener Generation nachfragen, die das alles tatsächlich erlebt hat: den übersteigerten Nationalismus gefolgt vom Hass, den Krieg mit mehr als 60 Millionen Toten und erst danach den gemeinsamen Aufbau eines erstmals friedlichen Europas.
„Nationalismus heißt Krieg. Krieg, das ist nicht nur
Vergangenheit. Er kann auch unsere Zukunft sein.“
François Mitterand, 1995
„Unsere Zukunft ist Europa –
eine andere haben wir nicht.“
Hans-Dietrich Genscher, 2015
Diese beiden Staatsmänner haben erlebt, wie schnell aus Abwertung Hass und aus Drohung Krieg werden kann. François Mitterand wurde 1916 in der Nähe der Stadt Cognac geboren, kam als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft, ging als Mitarbeiter der Vichy-Regierung in den Widerstand, dann zu Charles De Gaulle, dem Präsidenten der Exil-Regierung, nach London und war zwischen 1981 und 1995 Staatspräsident. Das Bild, auf dem er und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl am 22. September 1984 über den Kriegsgräbern von Verdun einander die Hand reichen, steht ikonografisch für die historische Tiefe der deutsch-französischen Freundschaft.
Diese beeindruckende Szene wirkte völlig spontan und war es auch, wie der Fotograf später erzählte. Beide Staatsmänner hatten in diesem Moment persönliche Erinnerungen: Bei der Schlacht von Verdun, im Nordosten Frankreichs, war Mitterand im Juni 1940 verletzt worden. Kohls älterer Bruder Walter war im Krieg gefallen.
Hans-Dietrich Genscher aus Halle an der Saale, einer Stadt, die im Lauf der Geschichte immer wieder zu einem anderen Reich oder Staat gehörte, trat im Jahr 1944 der NSDAP bei, war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, verließ 1952 die DDR und verhandelte im Jahr 1990 als Außenminister gemeinsam mit Helmut Kohl die deutsche Einheit. Schon Monate davor, am 30. September 1989, also vor dem Fall der Mauer, konnte ein sichtlich bewegter Genscher den DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft mitteilen, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Auch ein Bild für die Geschichtsbücher.
Diese beiden Männer stehen für eine Generation, die alles erlebt hat: Diktatur, Krieg, Frieden, Wiederaufbau, Wohlstand und ein Europa, wie es zuvor nicht existiert hat. Beide Zitate stammen aus dem jeweils letzten Lebensjahr von Mitterand und Genscher. Da werden auch politische Alphatiere pathetisch, oder sie spüren, dass Frieden und Freiheit in Europa auf Dauer eben nicht selbstverständlich sein werden. So sind diese Sätze auch eine ebenso kurze wie präzise Bilanz des 20. Jahrhunderts.
Kriege wurden in Europa immer geführt, seit dem Entstehen der Nationalstaaten wurden diese immer blutiger und mit immer mehr Emotionen aufgeladen. Der Westfälische Friede von 1648 brachte immerhin erstmals die formale Gleichberechtigung der Staaten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erkannten die Staaten einander als Träger politscher Herrschaft an. Otto von Bismarck erklärte das Deutsche Reich, das er nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 zu einem späten Nationalstaat machte, für saturiert, doch Kaiser Wilhelm II. reichte das nicht. Er wollte ein Weltreich mit einer großen Flotte. Dieser Traum ging im Ersten Weltkrieg unter, Hitler setzte mit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die ganze Welt in Brand, sondern zerstörte mit seinem Wahnsinn auch die mühsam erreichte Einheit der Deutschen in einem Staat.
Aus Feinden werden Freunde
Das Jahr 1945 war die erste große Zäsur, weil Sieger und Besiegte erstmals erkannten, dass sie einander für eine friedliche Zukunft brauchen würden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1952, die sogenannte Montanunion, war die zweite. Dadurch haben Sieger und Verlierer, die ehemaligen Feinde Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Staaten die Kontrolle über die kriegswichtigen Produkte Kohle und Stahl einer supranationalen Behörde übertragen. Damit war eine in Europa bis dahin undenkbare Idee umgesetzt, nämlich dass die Nationalstaaten Souveränität aufgeben, um gemeinsam als souveräne Einheit und dadurch viel stärker aufzutreten. Dass die Montanunion nur zwölf Jahre nach dem Krieg durch die Römischen Verträge in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mündete, war die dritte Zäsur. Der Euro sollte dann am Beginn einer politischen Union stehen. Ob die Reihenfolge die richtige war, also die Einführung des Euro ohne Wirtschaftsunion, darüber lässt sich ebenso trefflich wie sinnlos streiten. Nun aber könnte das Corona-Virus den Einigungsprozess der EU wieder zerstören. Oder im Idealfall die Wirtschaftsunion, die zur Währungsunion zwingend dazu gehört, bringen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, stets Realist und rationaler Rechner, hat diese Hoffnung im Sommer 2020 in mehreren Interviews geäußert.
Die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Fehler von früher nicht wiederholen und endlich ein friedliches Europa aufbauen wollte, kam von beiden Seiten des Schlachtfelds. Die Römischen Verträge unterzeichneten Männer, die kurz zuvor noch erbitterte Feinde gewesen waren. Walter Hallstein, Adenauers Staatssekretär und deutscher Mitunterzeichner, war zwar nicht Mitglied der NSDAP, aber als Universitätsprofessor aktiv in Nazi-Organisationen und ab 1942 Offizier der Wehrmacht. Aus den anderen Ländern kamen überwiegend Kriegsteilnehmer, deren Heimat von Deutschen überfallen worden war. Viele waren im Widerstand aktiv, wie der Franzose Christian Pineau. Der Sozialist wurde dafür im KZ Buchenwald interniert. Der Luxemburger Christdemokrat Lambert Schaus war als Zwangsarbeiter