Letzter Weckruf für Europa. Helmut Brandstätter
Читать онлайн книгу.der letzten 75 Jahre beweist, dass wir die großen Herausforderungen immer nur gemeinsam bewältigt haben. Das Virus weist uns darauf hin, dass nun vieles, was selbstverständlich war, gefährdet ist: unsere Sicherheit, unser Wohlstand, generell unsere an Freiheit orientierte Lebensart. Um das alles zu erhalten, müssen wir jegliche Illusion verlieren und gemeinsam das Richtige tun.
KAPITEL 2
ILLUSION
WIR EUROPÄER KÖNNEN UNS NUR SELBST HELFEN
Wir haben zu lange in der Illusion gelebt, dass die EU sich von selbst weiterentwickeln, dass der Handel den Wandel bringen und der Wohlstand den Frieden erhalten würde. Und dass die Jungen nicht mehr über Europa reden würden, weil sie es ja täglich leben. Was für ein Irrtum.
Gerade weil die offenen Grenzen selbstverständlich geworden waren, wurden sie bald nicht mehr so geschätzt wie zu Beginn, als der Abbau von Schlagbäumen noch ein Medienereignis war. Dazu kam eine Generation von Politikern, die historisch nicht unbedingt gebildet, jedenfalls aber persönlich in die Geschichte Europas nicht mehr involviert ist und das Zusammenleben in der EU emotionslos sieht, sogar eher als technokratische Aufgabe empfindet. Emotionen werden hingegen bewusst in den Nationalstaaten und den heimischen Medien eingesetzt, sie sind für viele Politiker ein Vehikel, um nationale Mehrheiten zu schaffen, anstatt den europäischen Zusammenhalt zu fördern. Und die Mehrheiten suchen sie oft nur, um die Macht mit einer kleinen Gruppe von Vertrauten zu genießen.
Einen Weckruf braucht, wer andernfalls zu lange schläft. Oder wer aufstehen muss, weil er viel zu tun hat. Beide Gründe treffen auf Europa zu, also genau genommen auf die Europäische Union. Sie hat schon lange einen weiteren Weckruf nötig, weil sie bereits einiges verschlafen hat. Dabei schläft die EU oft schlecht und wird manchmal von Alpträumen wie dem Austritt eines Mitglieds geplagt. Ob die Folgen von Covid-19 als Weckruf ausreichen, werden wir erst sehen. Dabei wird das Bild vom „Weckruf für Europa“ schon länger und immer wieder verwendet, wenn eine neue Herausforderung auf die EU zukommt.
Hugo Portisch hat im Jahr 2017 aus aktuellem Anlass ein Buch geschrieben: Leben mit Trump, ein Weckruf. Donald Trump und seine Unberechenbarkeit mögen uns in Europa doch endlich dazu bringen, auf uns selbst zu schauen, so der Appell des großen Publizisten. Aber: Weder das Selbstbewusstsein noch die Selbstverteidigungskräfte der Europäer sind seither gestiegen.
Die Friedrich Ebert Stiftung hat im Jahr 2019 erhoben, dass sich die Europäer nicht sicher fühlen würden und sogar Krieg wieder für möglich hielten, das müsse doch ein Weckruf sein, wurde beim Forum Alpbach im Herbst desselben Jahres erörtert. Dieses Thema beschäftigt also schon länger Politik und Publizistik – ohne sichtbares Ergebnis oder gar sinnvolle Konsequenzen.
Angela Merkel nannte im Jänner 2020 in Davos den Brexit einen „Weckruf für Europa“, da hatte sich die Union bereits mit dem Ausscheiden der Briten abgefunden, aber insoweit bewährt, als die EU bei den Verhandlungen mit der britischen Regierung – zuerst mit Theresa May und dann mit Boris Johnson – geschlossen auftrat. Immerhin. Aber aus irgendeinem Grund, den wir herausfinden müssen, üben sich die Europäer, vor allem ihr politisches Führungspersonal, in Vorsicht bis hin zur Passivität, die ihnen mehr und mehr schadet. Nirgendwo ist Aufbruchstimmung zu spüren, stattdessen sind mancherorts Rückschritte zu verzeichnen. Die Führungen in Deutschland und Frankreich, früher „der Motor der EU“, ließen jahrelang völlig aus, bis Merkel und Macron die Initiative ergriffen. Fairerweise wollen wir zugeben, dass sie es nicht leicht haben. Wenn Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing in den 1970er Jahren kooperierten oder anschließend Helmut Kohl und François Mitterand, dann fühlten sich andere Länder manchmal überrollt. Wenn Angela Merkel weder mit Nicolas Sarkozy noch mit François Hollande zusammenfand, war es auch nicht recht. In der Pandemie zeigten Merkel und Emmanuel Macron, dass die beiden Staaten sehr viel bewegen können, wenn sie einig auftreten. Ihr Vorschlag zum großen Paket der 500 Milliarden führte schnell zu einer Initiative der Kommission, die 250 Milliarden draufpackte. Vier kleine Staaten, die sich „frugal“ nannten, aber unwillig wirkten, haben reagiert, aber sich am Ende – beim langen EU-Gipfel im Juli – zumindest eingeschränkt solidarisch gezeigt.
Schon vor der Krise machten sich Regierungen in Osteuropa ostentativ über die europäischen Werte lustig oder ignorierten sie. Beim Geldverteilen zur Bewältigung der Krise tauchte plötzlich die Frage auf, ob Ungarn und Polen nicht zuerst ihre mangelnde Rechtsstaatlichkeit korrigieren müssten, bevor sie Zuschüsse kassieren könnten. Die Krise als Katharsis. Und die notwendige Erweiterung um die Staaten des Westbalkan wurde von vielen Mitgliedstaaten allzu lange nicht ernst genommen. Zum Schaden der Menschen in diesen Ländern, die nach Jahrzehnten von Kommunismus und Kriegen so sehr an Europa glauben, aber auch zum Schaden der EU. Auch hier schärfte die Krise den Blick, weil China sich als großzügiger Spender von Gesundheitsmaterial feiern ließ und dann klar wurde, dass die geschickten Planer aus Peking schon einen Teil der Infrastruktur des Balkan beherrschen.
Das Corona-Virus kam mit einer Wucht über ganz Europa, auf die niemand vorbereitet war. Dabei war beim Ausbruch Ende Dezember 2019 in Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei schon absehbar, dass die ganze Welt davon betroffen sein würde. Andere Infektionen hatten Jahrhunderte davor schon ohne Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe den Erdball erobert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch europäische Bürger, unser Wirtschaftssystem und unser ganzes Leben darunter leiden würden. Ob es das generelle Überlegenheitsgefühl des Westens war oder die Hoffnung auf das bessere Gesundheitssystem – das Virus wurde lange unterschätzt und erwischte uns weit stärker, als wir uns das hätten vorstellen können, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen quer über den Kontinent.
Die Illusion der falschen Bedrohungen
„Ein Europa, das schützt“ war die gefällige Losung, als Österreich am 1. Juli 2018 den Ratsvorsitz der EU übernahm. Die damalige türkis-blaue Regierung mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) war gerade mal ein halbes Jahr im Amt, die beiden Parteien waren sich in der Öffentlichkeit in allen Fragen einig. Nach vielen Jahren, in denen die große Koalition aus SPÖ und ÖVP den permanenten Konflikt lebte, war der Slogan „Nicht streiten“ schon ein kleines Erfolgsrezept. Der Ibiza-Skandal brachte dieser Koalition im Mai 2019 das frühe Ende. Heftige Nachwirkungen spürt das Land nun im Ibiza-Untersuchungsausschuss, in dem es um möglicherweise käufliche Gesetze und fragwürdige Postenvergaben geht. Bis zur Sommerpause hat der Ausschuss des Parlaments jedenfalls einige Fälle von Postenschacher und noch mehr Erinnerungslücken bei führenden Politikern hervorgebracht.
Für Kurz und Strache war die Parole vom „schützenden Europa“ ein deutlicher Hinweis auf ihre Politik der geschlossenen Grenzen der Europäischen Union nach außen und, wenn aus ihrer Sicht notwendig, auch innerhalb der EU. Vor allem sollte signalisiert werden: Wir schützen euch vor Flüchtlingen und überhaupt Zuwanderern aller Art. In den offiziellen Verlautbarungen wurde das noch mit anderen Themen verbunden. So hieß die Zusammenfassung des Programms „Ein Europa, das schützt“ auf der Website www.eu2018.at:
„Der Zugang, den Österreich wählen wird, um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips. Die Europäische Union soll auf die großen Fragen fokussieren, die einer gemeinsamen Lösung bedürfen, und sich in kleinen Fragen zurücknehmen, in denen die Mitgliedstaaten oder Regionen selbst besser entscheiden können. Dadurch soll dem Motto der EU 'In Vielfalt geeint' Rechnung getragen werden. In diesem Sinne wird der österreichische Ratsvorsitz die effektive Schutzfunktion der EU insbesondere in drei Schwerpunktbereichen in den Vordergrund stellen:
•Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration,
•Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit durch Digitalisierung,
•Stabilität in der Nachbarschaft – Heranführung des Westbalkan/Südosteuropas an die EU.“
Das klang damals alles recht gut, aber zwei Jahre später, in der Corona-Krise, wurde klar, wie sehr die EU auf große Herausforderungen