Nikolas Nickleby. Charles Dickens
Читать онлайн книгу.unter seinen Mauern begegnen, steht Newgate. In der gedrängt vollen Straße, auf die dieses Gebäude düster zürnend herunterblickt, wenige Fuß von den schmutzigen einsinkenden Häusern auf derselben Stelle, wo die Garköche, Fischhändler und Obstverkäufer ihr Gewerbe treiben, sind einst Hunderte von menschlichen Wesen; oft sechs bis acht kräftige Männer auf einmal, unter einem Gebrüll von Stimmen, gegen das sogar der Tumult einer großen Stadt als nichts erscheint, schnell und gewaltsam unter dem fürchterlichen Zudrang von Menschenmassen aus der Welt geschafft worden. Neugierige Augen blickten dann aus allen Fenstern, von allen Dachgiebeln, Mauern und Pfeilern, und wenn dann der zum Beil verurteilte Elende sich mit dem alles umfassenden Blick der Todesangst unter der Masse von weißen, aufwärts gerichteten Gesichtern umsah, so erblickte er auch nicht eines, das den Ausdruck von Mitleid oder Teilnahme getragen hätte.
In der Nähe des Gefängnisses und daher auch in der Nähe von Smithfield, dem Schuldturme, und dem Lärm der City, gerade an einer Stelle von Snow Hill, wo die nach Osten gehenden Omnibuspferde allen Ernstes daran denken, absichtlich zu fallen, und die westwärts ziehenden Fiakergäule zufällig stürzen, befindet sich der Wagenschuppen des Wirtshauses zum Mohrenkopf, dessen Portal durch die Büsten von zwei Mohren behütet wird. Es war ehedem der Stolz und Ruhm der geistvollen Londoner Jugend, diese beiden Wächter herunterzustoßen, aber schon seit einiger Zeit befinden sie sich in ungestörter Ruhe. Vielleicht weil diese Art von Scherz sich nunmehr auf den St.-James-Sprengel beschränkt, wo man sich mit leichter tragbaren Türklopfern zu schaffen macht und Klingeldrähte für geeignetes Spielzeug hält.
Mag nun dies der Grund sein oder nicht, genug, sie sind da, zürnend von beiden Seiten des Torwegs herabstierend, und das Wirtshaus selbst, das mit einem weiteren Mohrenkopf geziert ist, blickt finster aus dem Hintergrunde des Hofes hervor, während sich über der Türe des hinteren Schuppens, in dem die roten Postkutschen stehen, ein kleiner Mohrenkopf befindet, der dem vor dem Hauptportal stehenden sprechend ähnlich sieht, wie denn auch das ganze Äußere des Gebäudes mit seiner Säulenordnung dem sarazenischen Geschmack angepaßt zu sein scheint.
Geradeaus nach vorn zu ging ein hohes Fenster, über dem das Wort »Kaffeezimmer« gemalt war. Wer da zu rechter Zeit kam, konnte durch dieses Fenster Mr. Wackford Squeers mit den Händen in den Rocktaschen auf und ab gehen sehen.
Mr. Squeers' Äußeres war nicht besonders ansprechend. Er besaß nur ein Auge, während man doch im allgemeinen das Vorurteil hegt, der Mensch müsse zwei haben. Aber dieses eine kam ihm ohne Zweifel sehr zustatten, wenn es ihm auch nicht sonderlich zur Zierde gereichte, denn es war von grünlich grauer Farbe und glich so ziemlich dem Ventilator einer Haustüre.
Die blinde Seite seines Gesichtes war in unzählige Falten und Runzeln gelegt, und das gab dem Mann, besonders wenn er lächelte, einen um so häßlicheren Ausdruck, als seine Physiognomie sowieso eine nur allzu große Ähnlichkeit mit der eines Gauners hatte. Sein Haar war glänzend und glatt gestrichen, ausgenommen an der niedern sich vordrängenden Stirne, wo es steif in die Höhe gebürstet war. Es war ein Bild, das mit der rauhen Stimme und dem unbeholfenen Benehmen Mr. Squeers' trefflich zusammenstimmte. Etwa zwei- oder dreiundfünfzig alt, war der Mann nur wenig unter Mittelgröße. Er trug ein weißes Halstuch mit langen Zipfeln sowie einen schwarzen Schulmeisteranzug, doch waren die Ärmel seines Leibrockes viel zu lang und seine Hosen viel zu kurz, so daß es fast aussah, als gehörten die Kleider gar nicht ihm.
Mr. Squeers stand also in einem Verschlage bei einem der Kaffeezimmer-Kamine. Auf einer Eckbank stand ein mit einem vermürbten Strick zusammengebundener Koffer, und auf diesem saß ein winziger Junge. Seine Schnürstiefel und Corduroy-Hosenbeine baumelten in der Luft, und die Schultern bis zu den Ohren emporgezogen und die Hände auf den Knieen blickte er von Zeit zu Zeit in augenscheinlicher Furcht und Besorgnis nach dem Schulmeister hin.
»Halb drei«, brummte Mr. Squeers, wandte sich vom Fenster weg und schaute verdrießlich nach der Uhr des Kaffeezimmers. »Es wird heute niemand mehr kommen.«
Durch diese Aussicht sehr mißlaunig gestimmt, blickte er sodann nach dem kleinen Jungen, um zu sehen, ob dieser nicht etwas täte, wofür man ihn züchtigen könne. Da aber der Junge zufällig gar nichts tat, so gab er ihm nur eine Ohrfeige und sagte ihm, er solle es nicht wieder tun.
»Als ich das letzte Mal hier war«, brummte Mr. Squeers, »konnte ich zehn Jungen mitnehmen. Zehnmal zwanzig macht zweihundert Pfund. Morgen früh um acht kehre ich wieder heim und habe nur drei. Dreimal null ist null, dreimal zwei ist sechs, sechzig Pfund. Was ist denn aus diesen Jungen geworden? Was ist denn den Eltern in die Köpfe gestiegen? Was soll das alles heißen?« – Hier nieste der kleine Junge auf dem Koffer heftig.
»Was war das – was hast du gemacht, Schlingel?« fuhr der Schulmeister auf.
»Nichts, Sir«, antwortete das Kind.
»Wieso nichts?«
»Ich habe nur geniest, Sir«, versetzte der Junge und zitterte dabei so heftig, daß der Koffer unter ihm klapperte.
»So, du hast geniest. Warum sagtest du dann, du hättest nichts getan, Bengel?«
In Ermangelung einer besseren Antwort bohrte der Kleine seine Fingerknöchel in die Augen und begann zu weinen, wofür ihn Mr. Squeers mit einer Ohrfeige von seinem Koffer herunter und mit einer zweiten wieder hinaufschlug.
»Warte nur, bis ich dich in Yorkshire habe, dann sollst du den Rest schon bekommen, Bursche«, knirschte er dabei. »Willst du augenblicklich still sein, Bengel!«
»J-j-a-a«, schluchzte das Kind und rieb sich das Gesicht mit einem baumwollenen Taschentuch, das mit der üblichen Bettlerpetition bedruckt war.
»Augenblicklich!« donnerte Squeers. »Hörst du?«
Da diese Ermahnung mit einer wilden, drohenden Gebärde begleitet war, tat der kleine Junge sein möglichstes, um die Tränen zurückzuhalten, und machte seinen Gefühlen nur noch durch gelegentliches Schluchzen Luft.
»Mr. Squeers«, rief jetzt der Kellner zur Tür herein, »in der Bar ist ein Herr, der nach Ihnen fragt.«
»Führen Sie ihn herein, Richard«, sagte Mr. Squeers mit sanfter Stimme. »Stecke dein Schnupftuch ein, Lausbub, oder ich bring dich um, sobald der Herr fort ist.«
Der Schulmeister hatte dem Kinde kaum diese Worte in grimmigem Tone zugeflüstert, als der Fremde eintrat. Mr. Squeers tat, als sähe er ihn nicht, und gab sich den Anschein, als sei er eben eifrig damit beschäftigt, seinem jungen Zögling eine Feder zu schneiden und ihm väterliche Ermahnungen zu erteilen.
»Mein liebes Kind«, sagte er laut, »jeder Mensch hat sein Bündel zu tragen. Aber diese frühe Prüfung, die dir so nahe geht und derentwegen du dir die Augen aus dem Kopfe weinst, was ist sie? Nichts. Weniger als nichts. Du verläßt zwar deine Familie, mein Kind, aber du wirst in mir einen Vater und in Mrs. Squeers eine Mutter finden. In dem anmutigen Dorfe Dotheboys, bei Greta Bridge in Yorkshire, wo junge Leute verköstigt, gekleidet, mit Büchern, Wäsche, Taschengeld und allem Nötigen versehen werden...«
»Mr. Squeers, nicht wahr?« unterbrach der Fremde die Reklamepredigt. »Mr. Squeers, wie ich glaube?«
»Derselbe, Sir«, sagte Mr. Squeers mit geheuchelter Überraschung.
»Der Herr, der eine Anzeige in die Zeitung einrücken ließ?«
»Ja, in der Times, der Morning Post, dem Chronicle, Herald und Advertiser, hinsichtlich der Erziehungsanstalt Dotheboys Hall, bei dem anmutigen Dorfe Dotheboys in der Nähe von Greta Bridge in Yorkshire«, bestätigte Mr. Squeers. »Sie kommen in Geschäftsangelegenheiten, Sir, wie ich an ihren beiden jungen Begleitern bemerke. Wie geht es dir, mein junger Freund? Und wie geht's dir, mein Junge?«
Mit diesen freundlichen Worten tätschelte Mr. Squeers die zwei hohläugigen, verhungert aussehenden kleinen Knaben, die der Fremde mitgebracht hatte, auf den Kopf und wartete, was ihm dieser mitzuteilen habe.
»Ich bin Farbwarenhändler und heiße Snawley, Sir«, stellte sich der Fremde vor.
Squeers nickte mit dem Kopf, als wolle er damit sagen: ein sehr schöner Name.
»Ich gedenke,