Das schwarze Herz. Armin Öhri

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Das schwarze Herz - Armin Öhri


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      Zweites Kapitel

      Einige Stunden später, es ging schon auf neun Uhr zu, erreichten Bentheim und Krosick – bis auf die Knochen durchgefroren – das Revier am Molkenmarkt, wo sich das Polizeipräsidium und die Stadtvogtei gemeinsam im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow befanden. Gleich daneben, im früheren Palais des Grafen von Schwerin, hatte seit 1771 das Kriminalgericht seinen Sitz genommen. Der gesamte Gebäudekomplex galt wegen der oft willkürlich ausgeübten Polizeigewalt als Ort des Schreckens. Als die beiden jungen Männer jedoch an diesem Novembertag des Jahres 1868 in Gideons Büro saßen, war davon nichts zu spüren. Albrecht hatte seine Fotos bereits entwickelt und die Abzüge abgegeben, Julius deponierte die Tatortzeichnungen auf dem Bürotisch. Ihnen beiden war es ein Anliegen, in Gideons Gegenwart die vergangene Nacht noch einmal Revue passieren zu lassen. Auf der Tischplatte standen drei heiße, dampfende Tassen Lindenblütentee, und allmählich erfüllte ein aromatischer Geruch den Raum.

      Der Kommissar führte das Getränk an die Nase und inhalierte kurz. Zufrieden seufzend stellte er die Tasse, ohne aus ihr getrunken zu haben, zurück auf den Tisch.

      »Wie finden wir den Mörder?«, fragte Julius beiläufig, worauf ihn Horlitz mit hochgezogenen Augenbrauen spöttisch anstarrte.

      »Sie meinen eher: Was war das Motiv des Mörders?«

      Bentheim, der nicht verstand, worauf der Beamte hinauswollte, erklärte sich: »Ich frage mich lediglich, welche unsere nächsten Schritte sein werden.«

      »Denken Sie logisch, mein lieber Julius! Glauben Sie denn wirklich, ein dreister Räuber hätte sich auf das weitläufige Gelände des Anwesens geschlichen, wäre dort eingebrochen, hätte auf Anhieb das Zimmer mit dem Safe gefunden, diesen geöffnet und wäre schließlich morgens um drei auf den Hausherrn gestoßen, der sich dann – rein zufällig natürlich – angezogen mit Hemd und Krawatte von dem bösen Buben erschießen lässt? Das klingt ziemlich überdreht. Und nebenbei ist es albern. Nein, Julius, denken Sie logisch! Wir sind hier nicht in einem Ihrer heiß geliebten Kolportageromane.«

      Bohrend blickte ihm Horlitz in die Augen. Als von dem Tatortzeichner keine Antwort kam, meinte er vorwurfsvoll: »Es ist doch sonnenklar, dass uns der Hausdiener belogen hat. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

      Bentheim schüttelte den Kopf, und mechanisch massierte er sich die linke Hand, deren Ringfinger und kleiner Finger er in Königgrätz auf dem Schlachtfeld eingebüßt hatte.

      Zu seiner Verwunderung nickte Albrecht Krosick. Wenngleich Julius wusste, dass das kriminalistische Gespür seines Freundes sein eigenes bisweilen übertraf, war er doch gespannt auf dessen Ausführungen; jene Ausgeburten der Hirnwindungen, die Bentheims deduktives Denken in den Schatten stellten. Stets war er aufs Neue überrascht, wenn er erleben durfte, wie sein Freund skurrile Aspekte schier unlösbarer Kriminalfälle enträtselte. So war es beim Fall der Dunklen Muse gewesen, bei den seltsamen Vorgängen um den Bund der Okkultisten oder bei der geheimnisvollen Dame im Schatten. Und so war es auch diesmal. Inzwischen waren sie auch keine Studenten mehr, seit sie im Frühjahr ihre Jus-Prüfungen bestanden hatten, sondern Aspiranten für den Polizeidienst.

      »Nun gut, Julius, geliebter Freund und Zechbruder«, begann Albrecht ausgelassen. »Laut Aussage des Hausdieners war um Viertel vor drei ein dumpfes Geräusch zu vernehmen: allem Anschein nach der Mörder, der sich Zutritt ins Haus verschafft hatte. Jetzt zeigt aber die Standuhr im Zimmer, wo die Tat geschehen ist, ebendiese Zeit an. Ein Zeiger ist auf der Neun, ein anderer auf der Drei.«

      »Was beweist, dass der Diener recht hat«, warf Bentheim ein.

      Krosick schüttelte missbilligend den Kopf.

      »Es wäre ein überaus großer Zufall, wenn die Uhr just zu jener Zeit stehen geblieben wäre, als der Mörder ins Haus gekommen war. Hast du nicht die Glasscherben auf dem Boden bemerkt?«

      »Doch.«

      »Natürlich. Dumme Frage – du musstest sie ja zeichnen. Also ist dir aufgefallen, dass die Uhr exakt dem Tresor gegenüber steht.«

      Erneut nickte der Tatortzeichner.

      »Und du hast sicherlich bemerkt, dass der Safe gewaltsam geöffnet wurde.«

      »Ja, es wurden einige Kugeln auf ihn abgefeuert.«

      »Dann darf ich dir somit die Lösung des Rätsels präsentieren?«

      Bentheim rollte die Augen. »Nur zu.«

      »Nun gut«, begann Krosick in der für ihn typischen, leicht nervigen Art, anderen gegenüber aufzutrumpfen. »Der Eindringling steht also vor dem Safe und versucht, ihn zu öffnen. Er zieht die Pistole, zielt auf den metallenen Kasten und drückt einige Male ab, weshalb der Tresor fünf Dellen aufweist. Auf dem Boden davor haben die Polizisten denn auch fünf Patronenhülsen, jedoch nur vier Projektile gefunden. Irgendwo, Kollege Julius, muss also noch eine weitere Kugel sein.«

      Bentheim pfiff anerkennend.

      Der Tatortfotograf fuhr fort: »Ein Schuss wurde also reflektiert, schwirrte ziellos durch den Raum und traf – zufällig – das Zifferblatt der Standuhr genau in seiner Mitte. Die gläserne Einfassung zersplitterte, womit wir auch die vielen Scherben am Boden erklären können. Die Kugel aber fuhr durch das Uhrwerk und brachte die Uhr zum Stehen. Ich habe mir das Gehäuse etwas genauer angesehen, Julius. Die beiden Zeiger wurden durch den Eintritt der Kugel zwar blockiert, doch müssen sie sich in diesem blockierten Zustand noch kurz gedreht haben.«

      »Wie das?«, fragte Julius verblüfft. »Die Uhr zeigte doch Viertel vor drei, wie es der Hausdiener zu Protokoll gegeben hat.«

      Nun war es Horlitz, der mit wissender Miene lächelte. »Die Uhr zeigte etwas in der Nähe von Viertel vor drei, denn um diese Uhrzeit können die Zeiger keine gerade Linie bilden und gleichzeitig auf der Neun und der Drei stehen. Das ist nicht möglich.«

      Julius zog seine Mercier, die ihm einst ein Onkel vermacht hatte, aus der Westentasche und blickte prüfend auf das Zifferblatt. Mit wenigen Handgriffen drehte er die Rädchen der Zeigerjustierung. Allmählich dämmerte ihm, worauf seine Freunde hinauswollten.

      »Verstehen Sie nun, was ich meine?«, fragte der Kommissar mit siegesgewisser Gelassenheit.

      »Es war also gar nicht Viertel vor drei«, stellte Julius fest. »Aber wie spät war es dann tatsächlich?«

      »Geben Sie mir Ihre Uhr!«, bat ihn Horlitz.

      Bentheim löste die Mercier von ihrer Kette, um sie dem Kommissar zu reichen. Dieser griff nach ihr und verstellte die Zeiger, bis sie genau zwölf Uhr anzeigten.

      »Sehen Sie, Julius«, erklärte er, »ich bewege jetzt langsam die beiden Zeiger. Sehen Sie es? Erst jetzt, etwa 32 Minuten nach zwölf Uhr zeigen die beiden Zeiger in die entgegengesetzten Richtungen. Und wenn ich weiterdrehe, so geschieht dies immer in einem Abstand von einer Stunde und ungefähr sechs Minuten.«

      Aufgeregt hielt er Julius die Uhr vors Gesicht.

      »Genau genommen zeigen der Minuten- und der Stundenzeiger um null Uhr 32 und acht Elftel Minuten zum ersten Mal in die total entgegengesetzte Richtung. Noch in dieser Nacht, als Sie beide am Tatort beschäftigt waren, habe ich es ausgerechnet. Darauf immer wieder im genauen Abstand von einer Stunde und fünf Minuten und fünf Elftel einer Minute, also ungefähr 27 Sekunden.«

      Bentheim hatte verstanden.

      Horlitz ereiferte sich weiter: »Haben Sie den Stand des Sekundenanzeigers an der Wanduhr betrachtet, Julius? Ja? Haben Sie das getan? Die Uhr zeigte ungefähr 50 Sekunden oder vielleicht auch 51 an. Mathematisch gesehen müsste der präzise Zeitpunkt jedoch bei 49 Sekunden plus eine Elftel-Sekunde gelegen haben. Das wiederum beweist, dass der Mord gar nicht morgens um drei stattfand, sondern schon viel früher. Das Uhrwerk ist mechanisch, die 50 war bereits erreicht. Die exakte Tatzeit lässt sich anhand des Sekundenzeigers auch leicht berechnen. Auf den Tresor wurde genau um 21 Minuten und 49 Sekunden nach zehn Uhr geschossen! Der Mord muss kurz zuvor geschehen sein. Quod erat demonstrandum!«

      Bentheim blieb die Luft weg. Zumindest theoretisch


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