Aus der Sicht der Fremden. Maria von Hall

Читать онлайн книгу.

Aus der Sicht der Fremden - Maria von Hall


Скачать книгу
ihm noch drei Ingenieure als Mitarbeiter. Hauptthemen waren zunächst die zwei Häfen an der Ostsee und deren Wiederaufbau. Anschließend sollten die Hütten und Gruben in Schlesien wieder in Betrieb genommen werden. Im Laufe der folgenden Jahre musste mein Vater die zerstörten Fabriken und Betriebe in verschiedenen polnischen Städten wiederaufbauen lassen und das Ganze beaufsichtigen. Das Ministerium, dem er jetzt unmittelbar untergeordnet war, schickte ihn durch ganz Polen, von einer Stadt zur nächsten, und schließlich mussten wir 1953 Bielitz verlassen und nach Breslau umziehen. Mein Vater war ein guter Organisator, er arbeitete effizient und schnell. Innerhalb von zwei Jahren konnten alle Fabriken in Breslau wieder in Betrieb genommen werden. Mein Vater arbeitete schon ein Jahr in Breslau, als er unsere Familie nachkommen ließ. Ein Jahr konnten wir dort gemeinsam mit unserem Vater verbringen, danach wurde er schon in die nächste Stadt, nach Swiebodzin bei Posen abkommandiert. Beim Umzug nach Breslau waren meine älteren Geschwister Toni und Fritz schon außer Haus, ich war vierzehn und Karl fünfzehneinhalb Jahre alt, als wir nach Breslau umziehen mussten.

      Das Team für den Wiederaufbau Polens (links mein Vater mit 44 Jahren)

Im Jahre 1954 bekamen wir eines Nachmittags einen unerwarteten Besuch in Breslau. Er hatte uns alle nicht nur überrascht, er war auch ungewöhnlich. Es klingelte. Ich eilte neugierig zur Tür und machte auf. Vor mir standen zwei Polizisten, die nach meinem Vater verlangten. Ich rief ihn, er kam schnell dazu, und als er die beiden erblickte, bat er sie gleich ins Wohnzimmer, ohne eine einzige Frage zu stellen. Mein Bruder Karl und ich saßen zusammen mit der Mutter in der Küche und warteten gespannt und ungeduldig auf Vater. Das Gespräch dauerte lange, und als die Polizisten endlich unsere Wohnung verließen, atmeten wir erleichtert auf. Unser Vater kam dann langsam in die Küche, in der die Mutter schon mit dem Abendbrot auf ihn wartete. Er war erregt und nachdenklich, er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Schließlich sagte er leise: „Sie haben von mir verlangt, dass ich meinen deutschen Namen aufgebe. Sie wollten auch, dass ich in die polnische Partei eintrete.“ Vater war noch fassungslos und versuchte, sich zu beruhigen. Wir alle waren verblüfft und warteten mit Spannung, wie das Gespräch ausgegangen war. Unser Vater hatte dieses nach längerem Ringen mit einer Frage beendet. Diese hatte gelautet: „Was ist Ihnen lieber? Ein Mensch, der nichts auf die Reihe kriegt, aber ein Parteigenosse ist, oder ein parteiloser, aber ehrlicher Mensch, der arbeiten kann?“ Die Polizisten hatten nichts erreicht und waren gegangen. Mein Vater hatte weder seinen Namen aufgegeben noch war er in die polnische Partei eingetreten.

      Kapitel 2

      Nördlich von meiner Heimatstadt Bielitz liegt die kleine Industriestadt Mikolow, die in den Sechzigerjahren ungefähr 22.000 Einwohner hatte. Es ist eine sehr alte, aber schöne und ruhige Stadt, die damals mit vielen Blumenrabatten geschmückt war. Das Zentrum der Stadt bildete ein großer Platz vor dem Rathaus, der damals noch mit Katzenkopfpflaster ausgelegt war. Um diesen herum befanden sich Lebensmittelgeschäfte, eine Apotheke, ein Restaurant, ein Kräutergeschäft und in einer schmalen und kurzen Gasse, die zum Rathaus führte, das einzige private Geschäft der Stadt, in dem ich Getreide kaufen konnte. Auch eine Buchhandlung und die Stadtbibliothek waren im Zentrum zu finden. Außerhalb befanden sich das Krankenhaus, das Kreisgericht und das Gymnasium, das meine beiden Töchter in den Siebzigerjahren besucht haben. Das Flair der Stadt hatte damals noch etwas Mittelalterliches.

      Fünfzehn Minuten Busfahrt von der Stadt Mikolow entfernt liegt das kleine Städtchen Laziska Gorne, in das ich im Jahre 1964 mit meinen beiden kleinen Kindern zog. Hier wohnten überwiegend Bergmänner, die in der Grube „Boleslaw Smialy“ beschäftigt waren, mit ihren Familien. Da meine Kinder ein Altersunterschied von vier Jahren trennt, musste ich acht Jahre lang um 06:30 Uhr in der Früh zum einzigen Kindergarten gehen, der zur Kohlengrube gehörte, und danach weiter zur Bushaltestelle am Rathaus eilen, um den Bus um 7:05 nach Mikolow zu erwischen. Auf dem großen Platz im Zentrum dieser Stadt befand sich eine Bushaltestelle, wo ich nach Tychy umsteigen musste. Ich habe dort im Gesundheitsamt gearbeitet, und wenn es mir gelang, um halb acht in Mikolow umzusteigen, bin ich trotzdem jeden Tag zwanzig Minuten zu spät im Amt angekommen. Unannehmlichkeiten habe ich deswegen aber nicht bekommen, weil der Chef wusste, dass es für mich keine andere Verbindung gab.

      Die rot bemalten Busse hatten damals noch ganz einfache Türen, die man selber aufmachen und schließen musste. Die Busse waren nicht immer pünktlich und jeden Tag gab es dasselbe Theater auf der weiteren Fahrt nach Tychy. Der Bus war in den Morgenstunden dermaßen überfüllt, dass die Menschen wie Trauben an den Treppen hängenblieben, um weiterzukommen. Der nächste Bus ist erst nach zwanzig Minuten gekommen und die meisten Bewohner der Stadt waren auf den Bus angewiesen, wenn sie nach Tychy oder weiter nach Bierun oder Auschwitz fahren wollten. Nur wenige Menschen konnten sich in den Sechzigerjahren ein Auto leisten. Es war ein Kampf hineinzukommen und ich musste oft auf einem Bein zwischen den anderen Passagieren stehen. Der Busfahrer, der sich an den Fahrplan halten wollte, hat den überfüllten Bus bei offenstehenden Türen in Fahrt gebracht, und die an der Treppe dicht aneinandergedrängten Menschen haben sich an den Innengriffen der Türrahmen festgehalten, die jederzeit abbrechen konnten. In Tychy angekommen hatte ich noch zwanzig Minuten zu Fuß zum Amt. Obwohl ich mich sehr beeilen musste, habe ich den Weg genossen, weil ich durchatmen konnte.

      Es waren extrem schwere Jahre für mich, die ich durchhalten musste. Ich war aber jung und gesund, und an jedem späten Abend war ich froh, wenn ich mit allen Pflichten und geplanten Arbeiten fertig geworden war. Das Haus, in dem ich die kleine Wohnung bekam, war ein Neubau, aber es hatte keine Zentralheizung. Jeden Abend, wenn die Kinder schon schliefen, holte ich die Kohle für den nächsten Tag in den zweiten Stock, und mit dieser Tätigkeit war der Tag für mich erst abgeschlossen. Das waren Jahre ohne freie Wochenenden und Urlaub.

      Meine einzige Schwester Toni, die neun Jahre älter war als ich, wohnte damals mit ihrem Mann Kurt und den beiden kleinen Kindern Halinka und Kornelius in der Stadt Beuthen, die nahe der Stadt Katowice liegt. Seitdem meine Schwester das Elternhaus in Bielitz mit neunzehn Jahren verlassen hatte und mit ihrem Mann nach Beuthen gezogen war, pflegte sie einen engen Kontakt zu mir. Ich war erst zehn Jahre alt gewesen, als sie uns verlassen hatte. Sie besuchte mich aber in Bielitz regelmäßig mit Kurt, der damals den Militärdienst als Deutscher unter der Erde in einer Grube in Beuthen leisten musste. In den späteren Jahren lief der Kontakt per Telefon während der Arbeit im Büro oder wir tauschten Briefe aus. Das war in der Zeit, in der sehr wenige Menschen sich ein Telefon zu Hause leisten konnten. Wir haben uns trotzdem unser Leben lang nicht aus den Augen verloren.

      Im Jahre 1968 wollte ich mit meinen beiden Kindern, die fünf und neun Jahre jung waren, in meinen ersten Urlaub fahren. Ich habe von der Firma meiner Schwägerin kostenlos ein Campinghäuschen, das sich in den Bergen befand, zur Verfügung gestellt bekommen. Ein solches Angebot wollte ich mir nicht entgehen lassen. Als ich meiner Schwester von dem Urlaub erzählte, fragte sie mich plötzlich, ob ich ihre Tochter Halinka mitnehmen würde. Ich habe mir bei der Frage nichts gedacht, wunderte mich aber, dass sie keinen Urlaub für diesen Sommer planten. Ich war natürlich einverstanden, und so bin ich dann mit meinen Kindern und der damals zwölfjährigen Halinka in die Berge in die kleine Touristenstadt Weishell gefahren, die an der südlichen Grenze Polens lag. Aus dem Zentrum der kleinen Stadt führte uns ein steiler Weg zu unserem Urlaubsziel. Es hat genieselt und fast eine Stunde lang gedauert, bis wir mit unseren Rucksäcken auf dem Berg angekommen waren. Auf dem kleinen Campingplatz auf der Alm befanden sich circa zwölf kleine Campinghäuser. Rundherum stand ein dichter Wald und neben den Häusern sprudelte ein Bach. Einfach herrlich! Es war kein Mensch zu sehen. Das Campinghaus war klein und die Ausstattung bescheiden. Wir hatten vier einfache Klappbetten zur Verfügung, weiters standen ein kleiner Tisch und vier Stühle darin. Zum Kochen gab es einen kleinen Kocher mit einer Platte. Das alles hat mich aber nicht erschreckt. Wichtig war, dass die Kinder aus der Stadt weg waren und die frische, kristallreine Luft atmen konnten. Die Kinder haben sich schnell eingelebt, der dichte Wald, der sprudelnde Bach, das waren natürlich Attraktionen für die Kinder und sie haben trotz des Nieselns Stunden am Ufer spielend verbracht, und die kleinen, zahlreichen Salamander haben zusätzlich Spaß gemacht. Jeden Tag nach dem Frühstück haben wir uns alle gleich auf einen Wanderweg begeben und die Bauern in der Gegend aufgesucht,


Скачать книгу