Dem dunklen Rächer verfallen. Inka Loreen Minden

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Dem dunklen Rächer verfallen - Inka Loreen Minden


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weil sich gerade eine Matrone von seinem Tablett bediente und ein Glas nach dem anderen leerte. Artig wartete Miles hinter der Lady, wobei ihm auffiel, wie dicht und lang Coles Wimpern waren. Wenn er sich umblickte und die anderen Gäste betrachtete, gab es keinen schöneren Mann als Cole. Hastings war zwar auch nicht zu verachten, und es hatte eine kurze Zeit gegeben, als Miles geglaubt hatte, in seinen Freund verliebt zu sein. Doch das war schon ewig her. Wo Hastings eine Saite in ihm zum Klingen gebracht hatte, ließ Cole eine ganze Symphonie erschallen. Seit Jahren überlegte er, gewisse Straßen und Viertel in London aufzusuchen, in denen sich männliche Prostituierte anboten. Bisher hatte Miles widerstehen können, doch niemals zuvor war das Verlangen größer gewesen als heute. Vielleicht sollte er es riskieren. Nur ein einziges Mal, um diesen unglaublichen Druck in seinem Inneren loszuwerden …

      Da er nun wusste, dass Cole genauso fühlte wie er, fand er den Mann noch anziehender. Doch es musste bei der Erinnerung an diesen einen Kuss bleiben. Zu viel stand auf dem Spiel.

      ***

      Erst zwei Stunden vor Sonnenaufgang löste sich der Rest der Gesellschaft auf und die letzten fuhren nach Hause oder gingen zu Bett. Die Dienstboten, darunter auch Cole, waren mit Aufräumen beschäftigt und boten keine Häppchen oder Getränke mehr an. Damit gab es für Miles leider keinen Grund mehr, sich in Coles Nähe aufzuhalten.

      Aber er fühlte sich noch kein bisschen müde, als er sich von Hastings verabschiedete – Emily war längst nach oben gegangen – und zu seiner geschlossenen Kutsche eilte, die vor der Stadtvilla stand. Sein Fahrer, der mit vierzig Lenzen zwar nicht mehr der jüngste war, aber seine Sache immer noch hervorragend machte, war auf dem Kutschbock eingenickt, doch nach einem kurzen Ruf sofort zur Stelle, um ihm die Tür zu öffnen.

      »Godric«, sagte er zu dem leicht ergrauten Mann. »Bring mich so schnell nach Hause, wie du kannst.«

      »Sehr wohl, Mylord.« Godric verbeugte sich, stieg zurück auf den Bock und schon fuhren sie los.

      Vom Stadtviertel Mayfair bis zu seinem Haus am Cavendish Square in Marylebone war es zum Glück nicht weit. Er wollte sich rasch umziehen, um im Schutz der Morgendämmerung Cole zu verfolgen. Wie Miles von Emily erfahren hatte – denn natürlich hatte er sie unterschwellig befragt –, befand sich die Agentur, die den jungen Mann beschäftigte, in der Mortimer Street. Miles war die »Servants Agency« bekannt, bei der Dienstjungen und -mädchen für einige Stunden oder Tage gebucht werden konnten, weil seine Mutter dort früher für ihre ausufernden Feiern selbst Personal geordert hatte. Zu dieser Adresse würde der Kutscher der Agentur die Angestellten bringen, damit sie die Dienstkleidung zurückgeben und ihren Lohn abholen konnten. Cole würde sich also von dort aus auf den Weg nach Hause machen.

      Weil die Straßen zu dieser Zeit noch frei waren, erreichten sie bereits nach wenigen Minuten Miles’ vierstöckiges Stadthaus, das in einer Reihe mit anderen prächtigen Bauten am Cavendish Square stand. Die einzelnen Gebäude trennte jeweils eine Durchfahrt, um mit der Kutsche in den Hinterhof zu gelangen. Miles sprang aus der Kabine, noch bevor Godric in der Nähe des kleinen Stalles angehalten hatte, und huschte durch die Küchentür ins Haus. Flink zog er sich seinen Frack, die Weste sowie die edle Oberkleidung aus, schlüpfte in ein altes Hemd sowie seinen schwarzen Kapuzenmantel, und verließ sein Heim auf demselben Weg, wie er es betreten hatte.

      Im Schutze der Dunkelheit marschierte er zügig in die Mortimer Street, die nur einen Katzensprung von seinem Zuhause entfernt lag. Dort verharrte er zwischen zwei Gebäuden, verborgen in den Schatten, und wartete auf die Ankunft der Agenturkutsche. Miles’ Herz raste, als diese knapp zwanzig Minuten später vor dem gegenüberliegenden Haus stehen blieb und neben all den weiblichen und männlichen Bediensteten auch Cole ausstieg. Es dauerte nicht lange, da trat er bereits wieder ins Freie – nun in derselben Kleidung, die er in der ersten Nacht ihrer Begegnung getragen hatte. In der einen Hand hielt er einen kleinen Beutel, die andere schob er in die Hosentasche.

      Als Cole in südlicher Richtung davon spazierte, heftete sich Miles an seine Fersen. Er wollte wissen, wo der Kerl wohnte. Natürlich nur zur Sicherheit, falls der Mann vorhatte, ihn zu erpressen. Miles kannte die Gesetze der Straße, schließlich trieb er sich selbst seit vielen Jahren hier draußen herum. Jedes Wissen, jeder Vorteil, wurden genutzt, um sich zu bereichern. Vielleicht spielte Cole mit dem Gedanken, von ihm Schweigegeld zu fordern. Deshalb war es nicht verkehrt, sich zu informieren. Miles verbot es sich streng, über andere Motive nachzudenken, aus denen er dem jungen Mann hinterherspionierte.

      Während sich Cole Soho näherte, blickte er ständig über die Schulter, als wüsste er, dass er verfolgt wurde. Dabei schob er seine Hand noch tiefer in die Hosentasche. Wahrscheinlich bewahrte er dort seinen Lohn auf und hatte Angst, überfallen zu werden. Oder er spürte womöglich Miles’ Blicke in seinem Rücken. Er musste deshalb noch vorsichtiger sein, vergrößerte den Abstand und bewegte sich von Deckung zu Deckung, immer im Schatten der Häuser. Doch es wurde kontinuierlich heller, die Straßen füllten sich langsam mit Leben. Sie durchstreiften nicht gerade die übelste Gegend, dennoch wünschte sich Miles, er hätte Cole sein Messer überlassen, damit der sich im Notfall verteidigen konnte.

      Er schnaubte amüsiert. Der Dieb weckte seinen Beschützerinstinkt? Miles war wirklich verflucht.

      Geschätzte zwanzig Minuten später bog Cole im Stadtteil Soho in die Little Pulteney Street. An den Hauptstraßen wohnte die Arbeiterschicht, in den Nebenstraßen die ärmeren Bürger. Deren winzige Behausungen befanden sich meist zwischen den Brauereien, die sich hier angesiedelt hatten. Der süßliche Geruch von Hopfen und Malz hing in jeder Gasse, und das Feuer unter den großen Kupferkesseln schien nie auszugehen. Überall dampfte und rauchte es und die ersten Fässer des Tages wurden zur Auslieferung auf Kutschen geladen.

      Miles hatte erst vor Kurzem in der Times gelesen, London wäre die Bierhauptstadt Europas. Er musste zugeben, dass er ein herbes Porter nach dem Boxtraining mit Hastings immer zu schätzen wusste. Ansonsten bevorzugte er liebliche Weine oder Brandy.

      Als Cole eine Treppe hinablief, die zum Souterrain eines Gebäudes führte, wartete Miles einen Moment, um ihm anschließend zu folgen. Eine Holztür am unteren Ende der Stufen führte in ein Kellerzimmer, das nur ein einziges Fenster besaß. Licht gab es hier keines, die Stufen lagen in völliger Dunkelheit und verschluckten auch Miles’ Silhouette.

      Der Vorhang hinter der schmutzigen Scheibe war nicht ganz zugezogen, weshalb Miles hineinspähen konnte. Er sah Cole, der auf einem kleinen Tisch neben einer Waschschüssel eine Kerze entzündete und den Beutel daneben abstellte. Daraus zog er etwas – vielleicht ein übrig gebliebenes Häppchen von der Feier – und schob es sich in den Mund. Während er kaute, holte er Geld aus der Hosentasche, bückte sich neben dem Tisch, entfernte einen losen Ziegelstein aus der Wand und verbarg seinen Lohn dahinter. Anschließend streifte er sich das Hemd ab, um sich schnell das Gesicht und unter den Armen zu waschen.

      Leider bekam Miles nicht viel zu sehen. Das Licht war zu schwach und das Fenster zu schmutzig. Doch als Cole die Kerze neben ein Bett stellte, erkannte er sehr wohl, dass noch jemand darin lag: eine junge Frau! Sie trug eine weiße Haube, unter der eine blonde Locke hervorspitzte, und lächelte Cole an, als sie kurz die Lider öffnete.

      Rasch schlüpfte er zu ihr unter die Laken, gähnte und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann löschte er das Licht – und Miles erkannte nichts mehr.

      Schnell zog er sich vom Fenster zurück und setzte sich auf eine Stufe. Seine Hände und Knie zitterten wie verrückt und in seinem Magen rumorte es. Er ließ sich zwar nicht von einer reichen Witwe aushalten, wie Miles wegen des Rosenduftes vermutet hatte, aber er lebte mit einer Frau zusammen. Bedeutete das, Cole besaß doch nicht dieselbe krankhafte Neigung wie er selbst? Hatte der Kerl ihm nur etwas vorgespielt? Wieso?

      Miles zuckte zusammen, als über ihm auf der Straße mehrere Männer Fässer vorbeirollten. Wie konnten die beiden bei diesem Lärm bloß schlafen? Das hier war wahrlich keine ruhige Gegend.

      Prompt fiel ihm eine Geschichte ein, die er mit etwa zwölf Jahren gehört hatte. Ganz London redete damals über die katastrophale Bierüberschwemmung, die sich in der Gemeinde St. Giles ereignete. In einer Brauerei an der Tottenham Court Road platzten nacheinander unzählige Fässer Bier, sodass schließlich mehr


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