Rosenhain & Dschinnistan. Christoph Martin Wieland

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Rosenhain & Dschinnistan - Christoph Martin Wieland


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ein Märchen von der Art und dem Gang eines lebhaften, gaukelnden, sich in sich selbst verschlingenden, rätselhaften, aber immer die leise Ahnung eines geheimen Sinnes erweckenden Traumes in sich hat, je seltsamer in ihm Wirkungen und Ursachen, Zwecke und Mittel gegeneinanderzurennen scheinen, desto vollkommener ist, in meinen Augen wenigstens, das Märchen.« – »Vorausgesetzt«, sagte Nadine, »daß, bei allem dem, soviel Wahrheit darin sei, als nötig ist, wenn die Einbildung getäuscht, das Herz ins Spiel gezogen und der Verstand sanft eingeschläfert werden soll.

      »Eine Forderung«, versetzte Herr M., »die wir zu allen Gattungen von Dichterei mitzubringen berechtigt sind und dem Märchendichter um so weniger erlassen können, da er auch hierin gewissermaßen den Traum zum Muster zu nehmen hat. Denn wie widersinnig, unbegreiflich, ja unmöglich die Erscheinungen, die ein Traum darstellt, immerhin sein mögen, dem Träumenden kommen sie natürlich, begreiflich und glaublich vor. Der Dichter ahmt also, nach seiner Weise, dem Traum nach, indem er nicht nur durch die zuversichtliche, unbefangene Treuherzigkeit, womit er die unglaublichsten Dinge als geschehen erzählt, den Verstand des Zuhörers, wie sich Fräulein Nadine sehr glücklich ausdruckte, einschläfert, sondern wirklich das Natürliche mit dem Unnatürlichen so fein und künstlich zu verweben weiß, daß man letzteres gleichsam unter dem Schutz des erstern unangefochten durchschlüpfen läßt. Wie sollte auch das Märchen diesen Schutz entbehren können, da es seiner Natur nach immer an der Grenze des Ungereimten schwebt?«

      Die sämtlichen Glieder der erzählenden Innung dankten dem Philosophen lachend für das Kompliment im Namen der ganzen Brüderschaft, und so begab sich die Gesellschaft, unter mancherlei Scherzen und freundlichen Neckereien, mit gewohnter Fröhlichkeit zur Ruhe.

      Herr M., dem das Los die Unterhaltung der Gesellschaft am vierten Abend aufgetragen hatte, erklärte sich in einem kleinen Prolog: Da er weder ein Geistermärchen noch ein milesisches Märchen noch irgendeine andre Gattung von aufstellbaren Märchen in seinem Vermögen hätte, so würden die Damen und Herren mit einer kleinen Novelle vorliebnehmen müssen, die er ehmals in einem alten, wenig bekannten spanischen Buche gelesen zu haben vorgab. Bei einer Novelle, sagte er, werde vorausgesetzt, daß sie sich weder im Dschinnistan der Perser noch im Arkadien der Gräfin Pembroke noch im Thessalien der Fräulein von Lussan noch im Pays du Tendre der Verfasserin der Clelia noch in einem andern idealischen oder utopischen Lande, sondern in unserer wirklichen Welt begeben habe, wo alles natürlich und begreiflich zugeht und die Begebenheiten zwar nicht alltäglich sind, aber sich doch, unter denselben Umständen, alle Tage allenthalben zutragen könnten. Es sei also von einer Novelle nicht zu erwarten, daß sie (wenn auch alles übrige gleich wäre) den Zuhörern ebendenselben Grad von Anmutung und Vergnügen gewähren könnte, den man aus glücklich gefundenen oder sinnreich erfundenen und lebhaft erzählten Märchen zu schöpfen pflege. »Von der meinigen., setzte er hinzu, »bitte ich Sie sich sehr wenig zu versprechen. Sie und ich werden uns beiderseits desto besser dabei befinden: ich, weil ich mir dann Hoffnung machen kann, Ihre Erwartung vielleicht zu übertreffen, Sie, weil Sie sich nur zu Ihrem Vergnügen getäuscht finden können. Übrigens muß ich noch sagen, daß meine Novelle sich von allen andern, soviel ich weiß, dadurch unterscheidet, daß sie keinen Titel hat. Ich habe mir alle Mühe gegeben, diesen Mangel aus meinem eignen Kopfe zu ersetzen, konnte aber keinen finden, gegen den ich nicht eine Einwendung hatte, die ihn verwerflich machte. Sie mag also, weil doch jedes Ding einen Namen haben muß (haben doch so viele Undinge einen!) und weil es in diesem Stück das erste in seiner Art ist, mit Ihrer Erlaubnis, die Novelle ohne Titel betitelt werden.«

      Und hiemit begann Herr M. seine Erzählung folgendermaßen.

      Die Novelle ohne Titel

       Inhaltsverzeichnis

      Die Familie Moscoso von Altariva, eine der ältesten und angesehensten in Galicien, war auf den gewöhnlichen Wegen, worauf große Häuser mit der Zeit in Verfall zu geraten pflegen, nach und nach so weit herabgekommen, daß die reichen, aber abgenutzten Gerätschaften einer alten, den Einsturz drohenden Burg, nebst der Herrlichkeit über ein paar kleine Weiler, und ein sechs Ellen langer Stammbaum beinahe alles waren, was Don Lope Moscoso, Graf von Altariva, der letzte Sprößling des ältern Zweiges der Familie, vom Glanz seiner Vorfahren übrigbehalten hatte. Fern vom Hofe, und sogar in der Hauptstadt seiner Provinz selten gesehen, lebte er mit seiner Gemahlin, Doña Pelaja, in einer beinahe einsiedlerischen Abgeschiedenheit von der Welt, einzig mit der Erziehung eines Sohns und einer Tochter beschäftigt, welche, in der nämlichen Stunde geboren; eine so große Ähnlichkeit der Gestalt und Gesichtsbildung mit auf die Welt brachten, daß es, in der Folge, den Eltern selbst nur durch die verschiedene Kleidung des Geschlechts möglich war, sie voneinander zu unterscheiden.

      Durch einen Glücksfall, der, wiewohl nicht ohne Beispiel, doch in Romanen und Komödien häufiger als in der wirklichen Welt vorzukommen pflegt, kehrte Don Jago, der einzige Vatersbruder des Don Lope, nach einer vieljährigen Abwesenheit, mit einem in Westindien erworbenen unermeßlichen Vermögen aus Mexiko zurück, mit dem Vorsatz, dasselbe, da er ohne Leibeserben war, zu Wiederherstellung des alten Glanzes seines Hauses anzuwenden. Er kaufte alle nach und nach veräußerten Güter wieder zusammen, baute das Schloß Altariva von Grund aus größer und schöner auf, als es je gewesen war, und wie er sein Ende herannahen sah, machte er ein Testament, worin er seinen Bruderssohn und nach dessen Tode den jungen Manuel Moscoso, seinen Großneffen, zum einzigen Erben seines ganzen Vermögens einsetzte; jedoch mit der ausdrücklichen Bedingung, daß, wofern dieser ohne Leibeserben abginge, dessen Schwester Galora mit einer beträchtlichen Summe abgefunden, die Stammgüter aber und alles übrige dem nächsten Seitenverwandten zufallen sollten, einem jungen wenig bemittelten Hidalgo, Don Antonio Moscoso genannt, der damals zu Ferrol als Fähndrich in des Königs Dienste stand und sich wenig Hoffnung auf Don Jagos Erbschaft zu machen hatte, da das frische Wachstum und die blühende Gesundheit des jungen Don Manuel einen so dauerhaften und kräftigen Stammhalter versprach, als Vater und Oheim sich nur wünschen konnten.

      Wie unangenehm auch diese Verfügung zugunsten des Seitenerben dem Don Lope und seiner Gemahlin war, so mußten sie sich doch darein ergeben; denn Don Jago hatte rechtsgültige Abschriften seines Letzten Willens sowohl in der königlichen als erzbischöflichen Kanzlei niedergelegt, und alles war darin so klar, daß der ausgelernteste Rabulist nichts dagegen hätte aufbringen können. Indessen machte, wie gesagt, die starke und gesunde Leibesbeschaffenheit ihres Sohnes sie von dieser Seite so sicher, daß ihnen der Fall, wo das Testament zum Nachteil ihrer Tochter Platz greifen könnte, gar nicht unter die denkbaren Dinge zu gehören schien.

      Allein in den Sternen war es anders geschrieben. Bald nach dem Ableben des Oheims wurden beide Zwillinge zu gleicher Zeit mit den Pocken befallen, einer Krankheit, gegen welche die damalige Heilkunst so wenig vermochte, daß sie der Natur und dem Zufall alles überlassen mußte. Das Fieber war von der bösartigsten Beschaffenheit. Die Eltern zitterten für beider Kinder Leben; wofern aber ja eines von beiden das Opfer sein müßte, so vereinigten sich ihre heißesten Wünsche für die Erhaltung ihres Sohnes, und wie lieb ihnen auch die kleine Galora war, so waren sie doch bereit, mit ihrem Leben das seinige zu erkaufen.

      Ihre Gelübde wurden nicht erhört. Don Manuel starb, und Galora blieb am Leben.

      In den Augenblicken, da die Waage der Entscheidung noch über ihnen schwebte, gab die Verzweiflung der trostlosen Mutter einen Gedanken ein, wie wenigstens dem Vorbehalt des Testaments (einem Übel, das dem Verlust ihres Sohnes von ihnen gleichgeschätzt wurde) ausgewichen werden könnte. Sie eröffnete das Mittel, worauf sie in der Angst ihres Herzens plötzlich verfallen war, ihrem Gemahl; der Fall war dringend, und sie hatten keine Zeit, weder der Rechtmäßigkeit noch den Folgen eines so außerordentlichen Schrittes nachzudenken. Es war nichts Geringeres, als die junge Galora dem sterbenden Bruder unvermerkt zu unterschieben und (außer den wenigen Personen, welche das Geheimnis notwendig wissen und gewonnen werden mußten, es ewig in ihrem Busen zu verschließen) aller Welt glauben zu machen, daß Galora gestorben, Don Manuel hingegen ihren Gelübden zu dem heiligen Jago von Compostel wiedergegeben worden sei.

      Don Lope nahm diesen Gedanken seiner


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