Maigret und der Mann auf der Bank. Georges Simenon

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Maigret und der Mann auf der Bank - Georges  Simenon


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       Der 41. Fall

      Georges Simenon

      Maigret und der Mann auf der Bank

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Mirjam Madlung

      Kampa

      1 Die gelben Schuhe

      Maigret konnte sich das Datum leicht merken, denn es war der Geburtstag seiner Schwägerin, der 19. Oktober. Außerdem war es ein Montag, auch daran musste er denken, denn montags bringen sich die Leute selten gegenseitig um, wie man am Quai des Orfèvres wusste. Und schließlich war es die erste Ermittlung in diesem Jahr, die schon ein wenig nach Winter schmeckte.

      Den ganzen Sonntag war ein feiner, kühler Regen gefallen. Die Dächer und das Pflaster glänzten schwarz vor Nässe, und durch die Fensterritzen schien ein gelblicher Nebel hereinzudringen, sodass Madame Maigret gesagt hatte:

      »Es wird Zeit, dass ich die Fenster abdichten lasse.«

      Seit mindestens fünf Jahren versprach Maigret in jedem Herbst, »am nächsten Sonntag« die Dichtungen anzubringen.

      »Du solltest lieber deinen dicken Mantel anziehen.«

      »Wo ist er?«

      »Ich hole ihn dir.«

      Um halb neun am Morgen brannte noch Licht in den Wohnungen. Maigrets Mantel roch nach Mottenpulver.

      Es hatte zwar tagsüber nicht mehr geregnet, aber die Luft war noch feucht, sodass das Pflaster nicht trocknen konnte und sich besonders dort, wo viele Menschen gingen, ein dunkler Film gebildet hatte. Gegen vier Uhr nachmittags, kurz vor Anbruch der Dämmerung, legte sich derselbe gelbliche Nebel wie am Morgen auf Paris und umhüllte den Schein der Straßenlaternen und Schaufenster.

      Weder Lucas noch Janvier noch der kleine Lapointe waren im Büro gewesen, als das Telefon geklingelt hatte. Santoni, ein Korse, der nach zehn Jahren im Glücksspiel- und im Sittendezernat neu in der Abteilung war, hatte abgehoben.

      »Chef, für Sie. Es ist Inspektor Neveu aus dem 3. Arrondissement. Er möchte Sie persönlich sprechen. Scheint dringend zu sein.«

      Maigret hatte den Hörer entgegengenommen:

      »Was gibt’s, mein Lieber?«

      »Ich rufe aus einem Bistro am Boulevard Saint-Martin an. Hier wurde eben ein Mann tot aufgefunden. Erstochen.«

      »Auf dem Boulevard?«

      »Nein, nicht direkt. In einer Art Sackgasse.«

      Neveu, ein alter Hase in seinem Beruf, hatte sofort erraten, was Maigret dachte. Messerstechereien, vor allem in einem Arbeiterviertel, waren selten interessant. Oft handelte es sich um eine Schlägerei zwischen Betrunkenen oder um eine Abrechnung zwischen Leuten aus dem Milieu, Spaniern oder Nordafrikanern.

      Neveu beeilte sich deshalb hinzuzufügen:

      »Die Sache erscheint mir merkwürdig. Am besten, Sie kommen vorbei. Es ist zwischen dem großen Juweliergeschäft und dem Geschäft für Kunstblumen.«

      »Ich komme.«

      Zum ersten Mal nahm der Kommissar in dem kleinen schwarzen Auto der Kriminalpolizei Santoni mit, und der starke Parfumgeruch, den der Inspektor verströmte, störte ihn. Santoni war klein und trug Schuhe mit ziemlich hohen Absätzen. Sein Haar glänzte pomadig, und am Ringfinger funkelte ein großer, wahrscheinlich falscher Diamant.

      Die Fußgänger waren im Dunkel nur schemenhaft zu erkennen, ihre Schritte klackten auf dem Asphalt. Etwa dreißig Menschen hatten sich am Boulevard Saint-Martin auf dem Gehweg versammelt. Zwei Polizisten in Pelerinen hinderten sie am Weitergehen. Neveu, der schon wartete, öffnete den Wagenschlag.

      »Ich habe den Arzt gebeten hierzubleiben, bis Sie kommen.«

      Zu dieser Tageszeit herrschte auf dem belebten Teil der Grands Boulevards der meiste Verkehr. Die große Uhr mit dem Leuchtzifferblatt über dem Juweliergeschäft zeigte zwanzig nach fünf. Das Kunstblumengeschäft hingegen hatte nur ein Schaufenster und war schlecht beleuchtet, wirkte trübe und verstaubt. Man fragte sich, ob jemals jemand dort eintrat.

      Zwischen den beiden Geschäften lag eine Sackgasse, so schmal, dass sie kaum auffiel. Es war nur ein unbeleuchteter Durchgang zwischen den Hauswänden und führte wahrscheinlich in einen Hof, von denen es in dem Viertel viele gab.

      Neveu bahnte einen Weg für Maigret. Drei oder vier Meter entfernt im Dunkel der Sackgasse standen einige Männer und warteten. Zwei von ihnen hatten Taschenlampen dabei. Erst aus der Nähe konnte man die Gesichter erkennen.

      Es war kälter und feuchter als auf dem Boulevard, und es herrschte ein permanenter Luftzug. Ein Hund, der sich nicht verscheuchen ließ, schlüpfte zwischen ihren Beinen hindurch.

      Vor der feuchten Hauswand lag ein Mensch der Länge nach auf dem Bauch. Der eine Arm war unter ihm, während der andere ausgestreckt mit der blassen Hand den Durchgang fast versperrte.

      »Tot?«

      Der Arzt aus dem Viertel nickte:

      »Er muss sofort tot gewesen sein.«

      Wie um diese Worte zu unterstreichen, glitt der Lichtkreis einer Taschenlampe über die Leiche und hob das Messer, das noch im Rücken steckte, auf unheimliche Weise hervor. Die andere Lampe beleuchtete ein Halbprofil, ein offenes Auge, eine Wange, die sich das Opfer beim Fallen aufgeschürft hatte.

      »Wer hat ihn entdeckt?«

      Einer der Polizisten in Uniform schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben und trat vor. Seine Züge waren kaum zu erkennen. Er war jung und etwas aufgeregt.

      »Ich habe meine Runde gemacht. Dabei werfe ich gewöhnlich einen Blick in alle Sackgassen. Es gibt ja immer Leute, die im Dunkeln irgendwelche Schweinereien treiben. Und da sah ich eine Gestalt auf der Erde liegen. Im ersten Moment dachte ich, es ist ein Betrunkener.«

      »War er schon tot?«

      »Ja, ich glaube schon. Aber der Körper war noch warm.«

      »Um welche Zeit war das?«

      »Viertel vor fünf. Ich habe nach einem Kollegen gepfiffen und dann sofort die Wache angerufen.«

      Neveu fiel ihm ins Wort:

      »Ich habe den Anruf entgegengenommen und mich gleich auf den Weg gemacht.«

      Das Polizeikommissariat des Viertels lag einen Katzensprung entfernt, in der Rue Notre-Dame de Nazareth.

      »Ich habe dem Kollegen gesagt, er soll den Arzt benachrichtigen«, fuhr Neveu fort.

      »Hat irgendjemand etwas gehört?«

      »Nicht dass ich wüsste.«

      Ein Stück weiter hinauf in der Gasse war eine Tür zu erkennen, schwach beleuchtet von einer Lampe darüber.

      »Wohin führt diese Tür?«

      »Ins Büro des Juweliers. Sie wird nur selten benutzt.«

      Die Leute vom Erkennungsdienst, die Maigret noch benachrichtigt hatte, bevor er am Quai des Orfèvres aufgebrochen war, erschienen mit ihren Fotoapparaten und Gerätschaften. Wie alle Techniker kümmerten sie sich nur um ihre Aufgabe und stellten keine Fragen. Ihre einzige Sorge war, wie sie in dem engen Gang arbeiten sollten.

      »Was befindet sich dahinten im Hof?«, fragte Maigret.

      »Nichts. Mauern. Eine Tür, schon seit Langem abgesperrt. Sie führt zu einem Haus in der Rue Meslay.«

      Offensichtlich war der Mann nach ein paar Schritten in die Gasse von hinten erstochen worden. Jemand musste ihm leise gefolgt sein, und die Passanten, die der Menschenstrom auf dem Boulevard vorübertrieb, hatten nichts bemerkt.

      »Ich habe diese Brieftasche bei ihm gefunden.«

      Neveu reichte


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