Maigret und der Mann auf der Bank. Georges Simenon
Читать онлайн книгу.des Inspektors.
Die Brieftasche war nicht bemerkenswert, weder neu noch stark abgenutzt, und von guter Qualität. Sie enthielt drei Tausendfranc- und einige Hundertfrancscheine sowie einen Personalausweis, ausgestellt auf Louis Thouret, Lagerverwalter, Juvisy, Rue des Peupliers 37. Außerdem befanden sich darin ein Wahlschein mit demselben Namen, ein Blatt Papier, auf dem fünf oder sechs mit Bleistift geschriebene Worte standen, und das sehr alte Foto eines kleinen Mädchens.
»Können wir anfangen?«
Maigret nickte. Blitzlicht flammte auf, der Auslöser klickte. Immer mehr Menschen versammelten sich vor dem Eingang zur Gasse, und die Polizei hatte Mühe, sie in Schach zu halten.
Nachdem die Aufnahmen gemacht waren, zogen die Leute vom Erkennungsdienst behutsam das Messer heraus, legten es in eine spezielle Schachtel und drehten die Leiche um. Man erkannte das Gesicht eines Mannes zwischen vierzig und fünfzig, in dem sich nichts als das pure Erstaunen spiegelte.
Er hatte nicht begriffen, was mit ihm geschah, und er war gestorben, ohne es zu begreifen. Die Überraschung in seinem Gesicht hatte etwas so Kindliches, so wenig Tragisches, dass einer der Männer dort im Dunkel unwillkürlich auflachen musste.
Der Tote war sauber und anständig gekleidet. Er trug einen dunklen Anzug, einen beigefarbenen Übergangsmantel und an seinen seltsam verrenkten Füßen gelbe Schuhe, die schlecht zur Stimmung dieses Tages passten.
Bis auf die Schuhe wirkte er so unauffällig, dass ihn niemand auf der Straße oder einer der zahlreichen Terrassen am Boulevard beachtet hätte. Der Polizist, der ihn gefunden hatte, sagte allerdings:
»Ich habe ihn schon einmal gesehen.«
»Wo?«
»Das kann ich nicht sagen. Aber das Gesicht ist mir irgendwie vertraut. Einer der Menschen, die einem täglich begegnen, die man aber nicht weiter beachtet.«
Neveu stimmte zu:
»Mir kommt er auch bekannt vor. Wahrscheinlich hat er hier im Viertel gearbeitet.«
Aber das erklärte nicht, was Louis Thouret in dieser Gasse, die nirgendwohin führte, gewollt hatte. Maigret wandte sich an Santoni, weil dieser lange bei der Sitte gewesen war. Es gibt nämlich vor allem in diesem Viertel eine ganze Reihe von Sonderlingen, die allen Grund haben, sich abseitszuhalten. Manchmal sind es Leute, die eine wichtige Position bekleiden. Von Zeit zu Zeit ertappt man sie, doch kaum sind sie frei, fangen sie wieder von vorn an.
Aber Santoni schüttelte den Kopf.
»Nie gesehen.«
Daraufhin sagte Maigret entschieden:
»Gut, machen Sie weiter, Messieurs. Wenn Sie fertig sind, soll er ins Gerichtsmedizinische Institut gebracht werden.«
Und zu Santoni:
»Wir statten seiner Familie einen Besuch ab, falls er eine hat.«
Wäre es eine Stunde später gewesen, hätte er sich vermutlich nicht selbst nach Juvisy begeben. Aber nun hatte er den Wagen noch zur Verfügung. Zudem weckte gerade die besondere Banalität dieses Mannes und auch sein Beruf Maigrets Neugier.
»Nach Juvisy.«
Sie hielten für einen Moment bei der Porte d’Italie, um in einem Bistro schnell ein Bier zu trinken. Dann ging es auf die Landstraße, mit den Lichtern der Scheinwerfer und den schweren Lastwagen, die sie einen nach dem anderen überholten.
In Juvisy schließlich erkundigten sie sich am Bahnhof nach der Rue des Peupliers. Sie mussten fünf Personen fragen, bevor sie die richtige Auskunft erhielten.
»Die ist dahinten, in der Siedlung. Sie müssen auf die Schilder achten. Die Straßen sehen alle gleich aus. Sie sind nach Bäumen benannt.«
Sie fuhren an dem riesigen Rangierbahnhof vorbei, wo unaufhörlich lange Züge von einem aufs andere Gleis verschoben wurden. Zwanzig Lokomotiven stießen Dampf aus, pfiffen und keuchten. Die Waggons knallten dumpf aneinander. Zur Rechten erstreckte sich ein neues Viertel, ein Gitternetz aus ganz geraden Straßen, die von elektrischen Lampen beleuchtet waren. Hunderte, vielleicht Tausende kleiner Häuser standen dort, alle gleich groß, alle in derselben Bauweise. Die gewichtigen Bäume, nach denen die Straßen benannt waren, waren noch nicht herangewachsen, die Gehwege stellenweise nicht gepflastert. Überall sah man dunkle Löcher und hier und da unbebautes Gelände, während sich anderswo kleine Gärten zeigten, in denen letzte Blumen verblühten.
Rue des Chênes … Rue des Lilas … Rue des Hêtres … Eiche, Flieder, Buche … Vielleicht würde die Gegend eines Tages wie ein großer Park aussehen, wenn die billig gebauten Häuser, die aus einem Baukasten zu stammen schienen, nicht schon verfielen, bevor die Bäume ihre normale Größe erreicht hatten.
Hinter den Küchenfenstern bereiteten Frauen das Abendessen vor. Die Straßen waren verlassen. Nur hier und da gab es Geschäfte, aber auch die wirkten sehr neu und wie von Amateuren betrieben.
»Biege hier mal links ab.«
Sie fuhren zehn Minuten im Kreis herum, bis sie auf einem blauen Straßenschild den gesuchten Namen lasen. Dann verpassten sie zunächst die Nummer 37, denn sie folgte gleich auf Nummer 21. Nur im Erdgeschoss brannte Licht. Es war die Küche. Hinter der Gardine sah man eine recht stattliche Frau hin und her gehen.
»Also los«, seufzte Maigret und zwängte sich nicht ohne Mühe aus dem kleinen Auto.
Er klopfte seine Pfeife am Schuhabsatz aus. Als er den Gehweg überquerte, bewegte sich die Gardine, und das Gesicht einer Frau tauchte am Fenster auf. Sie schien es nicht gewohnt zu sein, dass bei ihr gleich gegenüber ein Auto hielt. Maigret stieg die drei Stufen hinauf. Die Tür war aus lackiertem Pitchpineholz und hatte zwei schmiedeeisern vergitterte Fenster aus dunkelblauem Glas. Er suchte noch nach dem Klingelknopf, als von drinnen jemand rief:
»Wer ist da?«
»Madame Thouret?«
»Das bin ich.«
»Ich möchte Sie sprechen.«
Sie zögerte noch, zu öffnen.
»Polizei«, fügte Maigret halblaut hinzu.
Daraufhin löste sie die Kette und entriegelte die Tür. Durch einen Spalt, der nur einen Teil ihres Gesichts erkennen ließ, musterte sie die beiden Männer, die auf der Schwelle standen.
»Was wollen Sie?«
»Ich muss Sie sprechen.«
»Was beweist mir, dass Sie von der Polizei sind?«
Es war reiner Zufall, dass Maigret seine Marke in der Tasche hatte. Meistens ließ er sie zu Hause. Er hielt sie ins Licht.
»Gut. Scheint echt zu sein.«
Sie durften eintreten. Der Flur war eng, die Wände weiß gestrichen, Leisten und Türen aus lackiertem Holz. Die Küchentür stand noch offen. Die Frau führte sie in ein angrenzendes Zimmer und schaltete das Licht ein.
Sie war etwa so alt wie ihr Mann, aber stattlicher als er, ohne dick zu wirken. Sie war kräftig gebaut und hatte straffe Haut. Das graue Kleid mit Schürze, die sie mechanisch abnahm, ließ sie nicht milder wirken.
Es war ein rustikal eingerichtetes Esszimmer, das wohl auch als Wohnraum diente. Die Möbel waren aufgestellt wie in einem Schaufenster oder im Lager eines Möbelhändlers. Nichts lag herum, keine Pfeife, keine Zigarettenschachtel, keine Handarbeit, keine Zeitung. Nichts ließ darauf schließen, dass hier Menschen einen Teil ihres Lebens verbrachten. Die Frau bot ihnen nicht an, sich zu setzen. Stattdessen sah sie auf die Schuhe der beiden Männer, als wollte sie prüfen, ob sie das Linoleum beschmutzten.
»Ich höre.«
»Ihr Mann heißt Louis Thouret?«
Mit zusammengezogenen Brauen versuchte sie den Sinn des Besuchs zu erraten und nickte stumm.
»Er arbeitet in Paris?«
»Er ist stellvertretender Direktor bei Kaplan & Zanin