Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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ungleich dem edlen Mittelmaß, das die Menschheit erarbeitet hat, Wilde, ein säuisches Getümmel, das Junge wirft wie die Katze und sie auch nicht länger trägt als diese . . .

      „Es muß doch eine Kleinigkeit für euer Gouvernement sein“, zuckte ich die Achseln, „mit diesen bedauerlich Rousseau’schen Erholungsstätten von der Kultur fertig zu werden. Besitzt ihr nicht die entsprechenden Todesstrahlen, die im Augenblick einen solchen Dschungel mit Gockelhähnen und Hühnern wegrasieren können?“

      Er griff sich an die Kehle und starrte mich erbleichend an:

      „Was sagst du? Hast du denn noch nicht gehört, daß wir nicht imstande sind zu . . . etwas Lebendiges zu beseitigen?“

      Es war ihm im letzten Augenblick gelungen, das Wort „töten“ zu vermeiden.

      Hier wurden wir unterbrochen. Der Wortführer, dieser unterhaltsame und fürsorgende Abbé des Hauses, stand in der Tür des kleinen Salons mit seiner ein wenig zitternden Silberperücke und bat uns unter vielen Entschuldigungen in den Saal. Dort trat uns Io-Rasa, die schöne Brautmutter entgegen. Ich fühlte mich gestört, denn erstens wäre ich recht gern ein bißchen länger im Bernstein eingesprengt gesessen, und zweitens war nun meine Neugier und Forscherlust so weit erwacht, daß ich schnell mehr wissen wollte. Neben dem „Arbeiter“ bedrängte mich der „Dschungel“ am stärksten. Hoffentlich konnte ich meinen Aufenthalt hier lange genug ausdehnen, um einen Blick auf jenen Dschungel zu werfen, von außen wenigstens, wo durch Mithilfe der Natur der Mensch wieder einmal der Bürde seiner guten Manieren ledig geworden war. Da ich es nie allzusehr mit den Wohlerzogenen gehalten hatte, so mußte ich fürchten, daß der Dschungel mir nicht genug Grauen einjagen würde.

      Die reizende Brautmutter durchdrang meine Geistesabwesenheit mit einem Lächeln:

      „Unsre Kinder“, wisperte sie, „sehnen sich schon sehr danach, Sie zu begrüßen, Seigneur. Die Kinder sind ja schließlich die Hauptpersonen dieser Tage, und Ihr gütiges Erscheinen, für das wir nicht genug danken können, ist als Geschenk für Io-Do und Io-La gedacht.“

      Die Dame deutete auf einen kleinen und sichtlich bescheidenen Mann in Silberkopfputz. Es war Io-Solip, der Vater des Bräutigams:

      „Mein lieber Gegenschwieger hier“, konversierte Io-Rasa, „wird die seltene Ehre haben, Seigneur, Sie vorerst zu Io- Do, seinem Sohn, zu führen. Sie werden nicht nur einen charmanten jungen Mann kennen lernen, sondern einen Sammler und strebsamen Studenten der Historie.“

      B.H. und ich folgten dem zarten und bescheidenen Herrn Io-Solip, der mir mit einer schützenden Handbewegung voranschritt, als müsse er mich davor bewahren, auf dem unbekannten Terrain dieser Zeit auszugleiten. Später erfuhr ich, daß soeben der Großbischof seinen Besuch angesagt hatte. Dieser Besuch war ein Teil der Festordnung. Da es sich um ein großes Haus handelte, sollte der Kirchenfürst am übernächsten Tag die Trauung selbst vornehmen. Die Hausfrau hatte mich geschickt aus den Empfangsräumen entfernt. Die Kirche nämlich verwarf, heute wie damals und immer, jede Art okkultistischer Aktivität als eine Entweihung des echten mystischen Strebens und als ein unerlaubtes Forschen im Verbotenen. Da diese Aktivität aber in letzter Zeit auf dem ganzen Globus erschreckend überhandgenommen hatte und derart raffiniert ausgebildet worden war, daß sie so glänzende Resultate und Realisationen aufzuweisen hatte wie zum Beispiel mich, so pflegte die Kirche, wie stets in solchen Fällen, ein Auge zuzudrücken, ohne einen Fußbreit von ihrem Standpunkt abzuweichen. Immerhin aber wäre es zu viel verlangt gewesen von einem Großbischof, daß er mit einem okkulten Phänomen gesellige Artigkeiten austausche, mit einer armen Seele in steifem Hemd und weißer Binde, die anderswohin gehörte als hierher, bestenfalls ins Fegefeuer, von wo sie vermutlich auch nur einen kurzen Urlaub erhalten hatte.

      SECHSTES KAPITEL

      Worin ich vom Bräutigam empfangen, nach antikem Kämpfer- und Soldatenleben ausgefragt werde und das Denkmal des Letzten Weltkrieges zu sehn bekomme.

      ALS WIR, von dem lieben Herrn Io-Solip, dem Bräutigamsvater, fürsorglich geführt, einen hochgewölbten Korridor durchschritten, dessen angenehme Dämmerung wie vom Abschein des unsichtbaren Mondes gesprenkelt war, hörte ich deutlich den unverkennbar knöchernen Anschlag und das Auseinanderfahren von Billardkugeln.

      „Was ist das, was ist das?!“ fragte ich und blieb stehn.

      „Was wird’s schon sein“, mahnte B.H. ärgerlich und zog mich weiter.

      Und wirklich und wahrhaftig, im Vorraum, der an des Bräutigams Schlafgemach grenzte, stand ein Billard auf seinen vier festen, kurzen, dickwadeligen Beinen, mit grünem Filz bezogen wie nur eh und je. Ich weiß nicht, warum es mich so herzlich bewegte, diesem Gegenstande hier zu begegnen, der schon in meiner eigenen Jugend auf mich immer den Eindruck eines altertümlichen Erbstückes aus Vorväterzeit gemacht hatte. Ach, so viele wertvolle Instrumente unsrer Kultur waren von der endlosen Zeit zwischen meinem Verschwinden und Wiederauftauchen dahingerafft worden: Ich sah zum Beispiel nirgends ein Pianoforte, noch irgendein anderes Musikinstrument, auch kein mechanisches, kein Grammophon, kein Radio. Einzig und allein das Billard, von seinen Anfängen an nur in dumpfen Kneipen, verregneten Landhäusern und feuchten Sommerhotels sich langweilend, hatte ein gewaltiges, ja ein mystisches Beharrungsvermögen entwickelt. Hier stand es, und es schien mir, B.H. und ich müßten es persönlich erkennen. Ich wagte aber nichts mehr zu sagen.

      Der Bräutigam Io-Do schien, als er unsre Schritte gehört hatte, sich sofort vom Billard und aus dem Vorraum in sein Gemach zurückgezogen zu haben, denn es geziemte sich in diesen Tagen nicht für den Freier, daß er seine betrachtende und vorbereitende Muße durch banale Hantierungen oder Spiele unterbrach. Wiederum schlug uns ein anderes Licht entgegen als die verschiedenen Beleuchtungen oben in den Empfangsräumen und die wohlige Dämmerung im Korridor. (Je persönlicher und intimer ein Wohnraum war, um so tiefer lag er im Schoße der Erde, ganz im Gegensatz zur Gepflogenheit einer Zeit, welche die Schlafräume in den Oberstock zu verlegen pflegte. Je einsamer der neue Mensch mit seinem Körper bleiben wollte, um so weiter zog er sich zurück.) In meinen Tagen hatten einige Psychiater und überspitzte Künstler davon geträumt, artifizielles Licht in verschiedenen Mischungen oder Farbharmonien im Zusammenhang mit musikalischen Klängen auf die Seelen verfeinerter Liebhaber oder Kranker wirken zu lassen. Hier waren diese erkünstelten Träume zur vernünftigen Tat geworden. Aus Gründen der schon mehrfach erwähnten Sonnenfürchtigkeit lebten meine zukünftigen Zeitgenossen in ihren Häusern nur bei künstlicher Beleuchtung. Die Abkehr von der Natur war vollkommen. Sie war aber, und das muß immer wiederholt werden, zugleich auch notwendig. Durch die Einschrumpfung der Ozeane nämlich und die dadurch verursachte Verminderung der Wolkenbildung strahlte über der Erde bekanntlich ein ebenso ewiger wie öder Blauhimmel. Die ausgetrocknete Atmosphäre setzte der ultravioletten Strahlung fast keinen Widerstand entgegen. Ein ganzer Tag, im Freien zugebracht, hätte selbst die Kräfte eines bärenstarken Mannes überstiegen. Wie herrlich war deshalb das Haus im Schoße der Erde! Es war herrlicher, wichtiger, willkommener als in der Vergangenheit die vier schützenden Mauern während eines Schneesturms. Wie gut, wie herrlich, wie willkommen war auch das künstliche Licht, auf das phantasievollste von den Menschen behandelt, da es jederzeit alle Nuancen spielen konnte, die draußen die Natur längst vergessen zu haben schien, von der windig fetzigen Fahlheit eines Märzmorgens bis zum druidischen Clair de Lune einer versilberten Juninacht, von der lilahältigen Schneeblässe eines welligen Skiterrains bis zum golddurchtropften Waldesdunkel, je nach Wunsch. Wie gut war auch die immer frisch bereitete Luft, die ich bisher zu erwähnen vergessen habe, eine Luft, entweder dünn wie auf Bergesgipfeln oder voll Jod und Salz wie über der aufgewühlten See. Es war ein Ideal von häuslichem Leben. Das Haus verschloß sich wie die tönende Muschel schützend vor dem Kosmos und zauberte doch das ganze Raunen des Kosmos in seinen engen Hohlraum. Vater Io-Solip hatte die Tür geöffnet. Wir folgten ihm ins Appartement seines Sohnes. Io-Do, der Bräutigam, lag, wie es sich gehörte, eine hölzerne Schlummerrolle unterm Kopf, auf dem viereckigen, niedrigen Ruhelager, ähnlich wie man es zu meiner Zeit als „Couch“ bezeichnet hatte. Der junge Io-Do trug keine Perücke, womit ich mich gewöhnt habe, den Kopfaufsatz meiner neuen Mitmenschen falsch zu bezeichnen, sondern er trug eine Art von goldenem Helm. Auch war er nicht nackt, sondern in einen dichten schwarzen Schleierstoff gehüllt;


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