Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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wieder, denn die geistige Freundschaft der ersten Jugend ist ein starkes Band für männliche Herzen. Und du wurdest B.H. und ich wurde F.W., und dann kamen die Nazis, und ich sah dich noch einmal an der Küste unsres geliebten Mittelmeers. Du warst auf dem Wege nach Indien. Welch ein schwermütiger Abschied war das für mich! Ich ahnte, wir würden uns nie mehr wiedersehn, denn der Zweite Weltkrieg wartete bereits am Parktor des schönsten südfranzösischen Sommers. Wir beide haben Schweres erlebt, du in einem Camp an der Grenze Tibets und ich auf meiner Flucht aus Europa. Du bist, so fürchtete ich, in Indien umgekommen. Vielleicht aber haben dich die tibetanischen Mönche gelehrt, wie man ewig weiterlebt trotz allem! Ich hingegen lebe augenblicklich in California. Es mag jedoch sein, daß ich in California nur begraben bin, denn du hast mich ja von meiner schrecklichen Unsichtbarkeit überzeugt . . . Ach, wie blutig ernst und nah ist das alles! Ich kann deine Ironie von den ,Anfängen der Menschheit’ nicht verstehn . . .“

      „Die Situation von uns beiden, lieber F.W.“, unterbrach er mich, „ist grundverschieden. Du bewahrst all diese Erinnerungen von den Anfängen der Menschheit so lebendig in dir auf, weil du inzwischen nicht wieder drangekommen bist . . .“

      „Drangekommen?“ schnappte ich ein. „Was soll dieser infantile Ausdruck? Du hast dir ja den Jargon unsrer Schülerjahre recht gut gemerkt. Drankommen? Meinst du damit, vom Lehrer zur Prüfung aufgerufen werden . . .?“

      „Sehr richtig, F.W.“, nickte er mit einem gewissen Stolz: „Und ich bin gerade dran, das will sagen: ich lebe . . .“

      Ich beschloß zu schweigen, obwohl es mir recht schwer fiel. Kraft meiner Unsichtbarkeit nämlich, oder besser, meiner durchsichtigen, unantastbaren und schwerelosen Körperlichkeit, kreisten meine Gedanken in heftigen Stromschnellen, und ich verstand und erkannte so manches in neuartig durchdringender Weise. Mein Geist funktionierte im Sinne einer höchst polyphonen Orchesterpartitur. Eine Reihe von Erkenntnissen entwickelte sich wie ein musikalisches Stimmengefüge nebeneinander, untereinander, und bildete doch eine sinnvolle Einheit, deren ich völlig inneward. Also doch, dachte es in mir, B.H.s Aufenthalt in Tibet hat ihn entscheidend beeinflußt. Er hat sich zweifellos der orthodoxesten Form der Reinkarnationslehre angeschlossen, und mehr als das, der Reinkarnation selbst. Das meint er unter „Drankommen“. Muß ich mich deshalb von B.H. abwenden und ihn Knall und Fall verlassen? Widerspricht die Doktrin und gar die Praxis der Wiedergeburt meinem eigenen Unsterblichkeitsglauben? Nein, entschied ich, ohne zu zögern. Fürs erste ist mein Unsterblichkeitsglaube ja kein Glaube mehr, sondern ein handfest bewiesenes Phänomen. Den schlagenden Beweis bilde ich selbst in meiner gegenwärtig unsichtbaren und doch lebendigen Verfassung . . . Ich bin, wie mir mein bester Freund ohne höfliche Umschweife auf den Kopf zugesagt hat, längst abgeschieden und wahrscheinlich auf dem Forest Lawn begraben, sofern derselbe nicht schon seit Urväterzeiten aufgelassen und der Ausbeutung von Erdöl übergeben worden ist. Und trotzdem bin ich ganz passabel beisammen und denke und fühle sogar mit erhöhter Lebhaftigheit. Descartes’ „Cogito, ergo sum“ gilt, Gott sei es gedankt, auch für mich nach dem Tode. Welch ein moralischer Triumph über das „Sum, ergo cogito“ meiner materialistischen Widersacher, dieses stumpfen Intellektuellenpacks. Was aber die Reinkarnation anbetrifft, war es nicht erst gestern nachmittag, daß mich eine jähe Erleuchtung überfiel? Der Ort freilich, wo der Blitz dieser geistigen Inspiration in mich einschlug, galt mir nicht als besonders philosophisch: ein Drugstore am Wilshire Boulevard. Ich vergaß, meinen Kaffee auszutrinken. Wie war das nur? Wie ist das nur? . . . Jedes Ich ist unsterblich, aber nicht jedes Ich ist ein ganzes Ich. Wie in der materiellen Welt, zum Beispiel in der Welt der Rosen, sich ein und dieselbe Blüte von Zeit zu Zeit auf das genaueste wiederholen muß, so auch in der Welt der Menschen, körperlich, seelisch, geistig. Der Formenschatz der Natur ist beschränkt, und nicht anders der Formenschatz der Menschheit. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Seelen, von ausgesprochenen Egos, die viel kleiner ist als die Anzahl der Namen, die diese Egos im Laufe ihrer Verwandlungen tragen. So ein Ich erscheint wie ein mehr oder weniger erfolgreiches Buch in verschiedenen Auflagen und Ausgaben, doch jedesmal unter verändertem Titel. Wenn Gott am Jüngsten Tage, wie es geschrieben steht, die Seelen zählen wird, so wird er eben nicht dreihundertsiebzig Quinquillionen, sondern nur siebenhunderttausend bis siebzig Milliarden Seelen zählen, je weniger desto besser und würdiger. Jedes Ich wird am Ende der Zeit ein dicker Strauß von Verkörperungen sein, eine Art staubumhüllter Wanderstamm, der durch die Wüste der Äonen zog . . . Immerhin ist es verwunderlich, daß der B.H. der Gegenwart dem B.H. aus den Anfängen der Menschheit so bis aufs Haar ähnlich sieht. Ich fühlte einen leichten Schwindel mein Bewußtsein bedrängen und unterbrach daher den Strom dieser Gedanken. Lange ließ ich meinen Blick auf B.H. ruhen, ohne zu bedenken, daß dieser Blick ihm nichts sagen konnte. Nun, dachte ich, dunste nur, mein Lieber! Ich rede kein Wort mehr. Das alles macht mich müde.

      B.H. trat näher auf mich zu. In seinem Lächeln war kein Vorwurf:

      „Wir sind eingeladen, F.W.“, sagte er und machte einen Versuch, mich auf die Schulter zu klopfen, die doch für ihn nicht vorhanden sein konnte.

      „Eingeladen?“ fragte ich ängstlich. Doch dann hörte ich meinen eigenen, abgespannten Seufzer:

      „Tu, was du willst . . . Ich muß ja mit allem einverstanden sein.“

      Diese meine Worte klangen ziemlich jämmerlich. Sie verschafften mir aber die Erleichterung, die ein Tourist empfindet, wenn er die Einteilung seines Tages in die Hände eines bewährten Reisemarschalls legt.

      DRITTES KAPITEL

      Worin ich am Schluß ein neuartiges Mittel der Fortbewegung kennen lerne.

      NACH DIESEM GESPRÄCH, das mir sehr kurz erschien, begann ich die Gegend, wo wir uns befanden, schärfer ins unsichtbare, aber sehende Auge zu fassen. Ohne Zweifel, wenn auch sonderbarerweise, hatten B.H. und ich, zwei Städter durch und durch, einander auf dem flachen Lande begegnet. Es war das flachste Land, das ich je erblickt, und es schien zu alledem auch noch ein ganz unbewohntes Land zu sein. Nicht die geringste Andeutung einer städtischen oder dörflichen Siedlung, so weit die Sehkraft reichte. Keine Baulichkeit irgendwelcher Art hob sich von der glatten Ebene ab, keine Tankstelle nah oder fern, kein Wasserrad, ja nicht einmal eine jener großen Reklametafeln, wie sie sonst selbst die einsamsten Wüstenstrecken flankieren. Die Empfindung aber, auf einer Straße zu stehn, konnte ich trotz der unbeschränkten und unparzellierten Ödigkeit ringsum nicht loswerden. Der dichte, wundersam kurz gehaltene, eisengraue Graswuchs, der den Erdboden ununterbrochen bedeckte, konnte nur auf menschliche Pflanzung und Pflege zurückzuführen sein. Der ganze Umkreis, von Horizont zu Horizont, war gewissermaßen Landstraße, eine Straße, anstatt mit Asphalt, mit diesem trauerfarbenen Teppich für Lustwandelnde belegt, eine Straße ohne die leiseste Erinnerung an einen Verkehr und dennoch so, als sei sie irgendeinmal von einem schier unermeßlichen Verkehr verlassen worden, damals, als tausend Reihen von Blitzgefährten nebeneinander in beiden schnurgeraden Richtungen hin und zurück rasten. Erst allgemach erkannte ich, daß die Glätte und Ödigkeit der Gegend nicht so ununterbrochen war wie ich zuerst vermutet hatte. In großen Abständen offenbarten sich meinem Auge, das sich der völligen Unvertrautheit dieser Welt erst langsam anpassen mußte, größere Baumgruppen, oder richtiger Baumhaufen, denn so dicht waren sie gesetzt, daß sie keine Lücken und Scharten aufwiesen und widernatürlich kompakt wirkten. Diese Bäume — es brauchte einige Zeit, ehe ich in ihnen Bäume erkannte — waren alle gleichartig und ziemlich niedrig. Ihre starren Kronen wurden von ledrigem und beinahe schwarzem Laub gebildet, aus welchem große wächserne Blüten hervorleuchteten, deren gelblichem Weiß verschiedene Andeutungen von Farbe zugemischt waren. Ich hatte ähnliche Gewächse nie gesehn. Es fiel mir sofort auf, daß diese Baumhaufen, sofern sie irgendein Leben überwölbten, ein zartes und wehleidiges Leben hüten mußten.

      Der Himmel war wolkenlos und glich in seiner tiefblauen Vereinsamung dieser grauen Erde hier unter seinem Bogen. Vermutlich war die Tageszeit ziemlich fortgeschritten, denn der Sonnenball, der mir etwas röter erschien, als ich ihn in Erinnerung hatte, warf schiefe, aber grelle Strahlen und erzeugte eine Temperatur, die man kalte Hitze oder heiße Kälte hätte nennen können. Obwohl mich das Bedürfnis nach dunklen Brillengläsern erfaßte, fror mich zunehmend, trotz meiner unsichtbaren Körperverfassung.

      Ich sah B.H. fragend an, vielleicht sogar ungeduldig.


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