Die Mission der Maru Tai. Mara Laue
Читать онлайн книгу.traute sie der Kommandantin unbesehen zu. Wenn Yora die Vorschriften befolgte, musste sie den Raum überprüfen, auch wenn sie damit einem direkten Befehl zuwiderhandelte. Sollte Chens Anordnung aber einen ganz anderen Grund haben und sich als berechtigt entpuppen, wäre Yora wegen Befehlsverweigerung dran. Was im günstigsten Fall nur ein Disziplinarverfahren zur Folge hätte, im weniger günstigen eine Degradierung und im schlimmsten Fall nach einem Strafverfahren in ihrer unehrenhaften Entlassung aus der Flotte gipfelte. Was also sollte sie tun? Was war das Richtige?
Ein Dilemma. Das sie aber nicht jetzt entscheiden musste. Sie checkte den letzten Frachtraum besonders sorgfältig und war damit fertig nur wenige Minuten, nachdem der letzte Frachtroboter das Schiff verlassen hatte.
»Davidoff an Zentrale! Die Fracht ist vollzählig an Bord und ordnungsgemäß gesichert. Von der Sicherheit her steht einem Start nichts im Weg.«
»Verstanden«, antwortete Chen. »Wir starten sofort.«
Yora warf einen Blick auf die Uhr. Ihr Dienst war eigentlich schon seit einer halben Stunde zu Ende. Aber sie hatte das Gefühl, heute besser keinen Dienst nach Vorschrift zu tun. Deshalb diktierte sie ihren Abschlussbericht der Kontrollen in ihr persönliches Datenpad und brachte es zu Captain Chen in die Zentrale, damit sie den Bericht abzeichnete. Was diese nach gründlicher Prüfung des Inhalts tat.
»Falls Sie keine weiteren Befehle für mich haben, Ma’am, beende ich meinen Dienst.«
»Tun Sie das, Lieutenant.« Das klang beinahe wohlwollend. Aber eben nur beinahe.
»Lieutenant Davidoff meldet sich ab«, verabschiedete Yora sich und machte, dass sie aus der Zentrale kam, bevor Chen ihr doch noch mit einer Sonderaufgabe den Feierabend versauen konnte.
Sie erwog, den geheimnisvollen Frachtraum sofort zu untersuchen. Chen war in der Zentrale beschäftigt und hatte anderes zu tun, als ein Auge auf den Raum zu haben. Aber Yora hielt es nicht für einen Zufall, dass Chen vorhin in genau dem Moment aufgetaucht war, als sie den Raum hatte scannen wollen. In jedem Gang und jedem Raum des Schiffes mit Ausnahme der Privatquartiere gab es Kameras, die alles aufzeichneten. Offenbar hatte Chen ein permanentes Auge auf die Kameras in dem Gang vor dem Geheimraum, andernfalls sie Yora nicht rechtzeitig hätte abfangen können.
Wenn sie also den Raum untersuchen wollte, musste sie das tun, wenn Chen dienstfrei hatte und idealerweise schlief. Außerdem sollte sie sicherheitshalber vorher die Kamera in der Sektion deaktivieren. Aber es wäre sicherlich nicht verkehrt, erst einmal so zu tun, als würde sie Chens Befehl befolgen und sich ein paar Tage lang nicht um den Raum kümmern.
Yora ging in den Speiseraum und stellte fest, dass die halbe Crew dort versammelt war und zu Abend aß. Auch hier herrschte eine strenge Hierarchie. Ein separater Tisch war Captain Chen und Commander Wendt vorbehalten, an dem auch Botschafter al Mahdi als VIP hatte sitzen dürfen. Gegenwärtig saß dort nur Commander Wendt. Deutlich davon getrennt waren fünf Tische für die leitenden Offiziere reserviert. Zwei davon waren mit jeweils drei Leuten besetzt, an einem anderen saß Lepathu allein – mit zwei freien Tischen zwischen sich und den anderen Offizieren. Yora hatte den Eindruck, dass nicht er derjenige war, der sich diese demonstrative Trennung ausgesucht hatte.
Die Sektion für die Führungsriege war vom Rest des Raums mit einer Phalanx aus Grünpflanzen getrennt, vor denen der Gang zu den Nahrungsautomaten verlief. Auf der anderen Seite standen die Tische für die restlichen Crewmitglieder. Vier große Wandbildschirme übertrugen abwechselnd Nachrichtensendungen und mit Musik untermalte Naturbilder.
Yora ging zum Automaten, wählte ein Gemüsegericht mit Sojasteak, Obstsaft und ein Stück Fladenbrot und ging zu Lepathus Tisch.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Gern«, stimmte er zu und zog seinen strichförmigen Mund in der Imitation eines menschlichen Lächelns in die Breite.
Yora stellte ihr Tablett auf den Tisch und setzte sich. »Wäre Ihnen eine Unterhaltung angenehm oder ziehen Sie es vor, schweigend zu essen.«
»Unterhaltung beim Essen ist eine menschliche Sitte, die ich zu schätzen gelernt habe, Lieutenant Davidoff. Für mein Volk ist Nahrungsaufnahme eine heilige Handlung, die mit dem gebotenen Ernst und damit einhergehender Schweigsamkeit zelebriert wird.« Lepathu richtete eines seiner Augen auf Yora, während das andere auf den Teller vor ihm blickte. »Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die nahrungsspendenden Götter sich weniger geehrt fühlen, wenn ich meine Verehrung mich unterhaltend teile.« Er neigte den Kopf zur einen Schulter, danach zur anderen. »Aber ich bin kein Priester, dass ich das sicher behaupten könnte. Doch ich bin überzeugt: Sollten die Götter daran Anstoß nehmen, werden sie es mich wissen lassen.«
Eine sehr pragmatische Sichtweise. »Dann guten Appetit«, wünschte ihm Yora.
»Danke, den habe ich. Die menschliche Nahrung ist zwar ganz anders als die skusarische, aber keineswegs weniger schmackhaft.«
Yora blickte auf seinen Teller: Gemüse, Obst und Reis.
Lepathu schaute ebenso interessiert auf ihren. Er deutete auf das Sojasteak. »Sojasteak.« Sein Tonfall klang nachdenklich. »Nach meinen Informationen bedeutet ›Steak‹, dass das betreffende Nahrungsmittel aus einem toten Tier geschnitten wurde. Sie essen tote Tiere?«
Yora schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht mehr. Evolutionsbedingt haben die frühen Menschen ihren Eiweißbedarf weitgehend aus dem Fleisch von Säugetieren, Vögeln und Fischen gedeckt, bevor sie den Ackerbau erfanden. Zu dem Zweck haben sie noch bis vor knapp dreihundert Jahren Tiere gezüchtet, nur um sie ihres Fleisches wegen zu schlachten.«
»Wie grausam!«
Yora nickte. »In der Tat. Diese Ansicht setzte sich auch immer mehr durch. Die Bevölkerung wuchs ständig und die Futtererzeugung für die Tiere band zu viele Ressourcen und erzeugte unangemessen hohe Verschmutzungen von Erde, Grundwasser und Luft. Außerdem stimmte die ökologische Bilanz nicht, weil man für die Erzeugung von einem Kilo Fleisch je nach Tierart zwischen fünf und zwanzig Kilo Futtermittel benötigte, die auch von Menschen gegessen wurden.« Sie deutete auf das Sojasteak. »Zum Beispiel Soja. Deshalb wurde die Nutzviehhaltung im Jahr 2132 komplett abgeschafft. Was natürlich zunächst zu riesigen Protesten führte.«
Lepathu hörte ihr interessiert zu. »Warum hat man protestiert?«
Yora trank einen Schluck Saft. »Die Viehzuchtbetriebe fürchteten Einnahmeverluste und zu hohen Kostenaufwand für die Umstellung auf reinen Ackerbau. Und die Leute, die liebten Fleisch zu essen, wollten auf den Genuss nicht verzichten. Aber die haben recht schnell den Fleischersatz akzeptiert, weil die Rezepturen durch die Zutat von Gewürzen und anderen Geschmacksträgern schließlich wie echtes Fleisch schmeckten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich kann das nicht beurteilen, denn ich habe noch nie Fleisch gegessen.«
»Interessant.«
Lepathu schob sich einen Löffel voll Gemüse in den Mund. Das tat auch Yora und wunderte sich, warum diese Informationen offenbar völlig neu für ihn waren. Er war Lieutenant in der Raumflotte und lebte entsprechend lange schon unter Menschen. Hatte er nie einem Kameraden, einer Kameradin diese Frage gestellt?
»Wie lange sind Sie schon in der Raumflotte, Lepathu?«
»Sieben Jahre. Und Sie?«
»Fünfzehn.«
Nur sieben Jahre – dann konnte er nicht die Akademie besucht haben und jetzt schon Lieutenant sein, denn sieben Jahre war das Minimum der Ausbildungszeit an der Akademie. Je nachdem, ob man sich für die Offizierslaufbahn oder Unteroffizierslaufbahn entschied, verließ man sie im Rang eines Midship Officers oder als Space Officer. Danach konnte man frühestens nach jeweils drei Jahren befördert werden, sofern man nicht wie Yora wegen außergewöhnlicher Verdienste, zum Beispiel während eines Krieges, vorzeitig befördert wurde. Lepathu hätte also für den Lieutenantsrang mindestens zwölf Jahre in der Flotte dienen müssen. Es sei denn, er hätte schon vorher auf Skusaros einen entsprechenden Rang bekleidet, der von der Raumflotte übernommen worden war.
»Sind Sie so etwas wie ein Austauschoffizier?«, fragte sie aus diesem Gedanken heraus.