Ausgewählte Erzählungen - Band 2. Bjørnstjerne Bjørnson
Читать онлайн книгу.Jahre alt, ein rothändiges Ladenmädchen, damit es ihm den Haushalt führte; denn der Vater war gerade Witwer geworden, und eine Frau war vorteilhafter als eine Haushälterin. Ein Jahr später wurde ihm ein Sohn geboren, der eine Woche darauf den Namen Pedro erhielt.
Als der würdige Per Olsen Großvater geworden war, fühlte er sich gleichsam innerlich berufen, alt zu werden. Er überließ deshalb das Geschäft seinem Sohn, setzte sich davor auf eine Bank und rauchte seine kurze Stummelpfeife. Und als er sich eines Tages dort draußen zu langweilen begann, wünschte er sich, bald zu sterben. Und wie all seine Wünsche still und ruhig in Erfüllung gegangen waren, so erfüllte sich auch dieser.
Hatte sein Sohn Peter ausschließlich die eine Seite der väterlichen Begabung – die Kaufmannsschläue – geerbt, so schien sein Enkelsohn Pedro ausschließlich die andere – die Liebe zur Musik – geerbt zu haben. Er lernte sehr spät lesen, dafür aber sehr zeitig singen, er blies so gut Flöte, daß es jedem auffallen mußte, er hatte ein feingeschnittenes Gesicht und ein weiches Gemüt. Dies kam dem Vater, der dem Jungen seine eigene emsige Genauigkeit anerziehen wollte, aber nur ungelegen. Wenn Pedro etwas vergaß, wurde er nicht, wie einst der Vater, gescholten und geschlagen, sondern gekniffen. Das ging in aller Stille vor sich, mit einer Freundlichkeit, die man fast hätte höflich nennen können, dafür aber bei der geringsten Kleinigkeit. Die Mutter zählte jeden Abend, wenn sie ihn auszog, seine blauen und gelben Flecke und küßte sie, schritt jedoch nicht dagegen ein, weil sie selber gekniffen wurde. Für jeden Riß in seinen Kleidern, die aus den Hamburger Anzügen des Vaters genäht worden waren, für jeden Fleck in den Schulbüchern bekam sie die Schuld.
Deshalb hieß es auch fortwährend: „Laß das, Pedro! Gib auf dich acht, Pedro! Denk daran, Pedro!“
Den Vater fürchtete er, und die Mutter wurde ihm lästig. Von seinen Kameraden hatte er nichts zu erdulden, denn er begann sofort zu weinen und bat sie, seine Sachen zu schonen. Er wurde „Waschlappen“ genannt und war nicht besonders beliebt. Er glich einem kranken, federlosen Entlein, das der Schar überall hinterherhinkte und mit dem winzigen Happen, den es erbeuten konnte, weit fort sprang. Niemand teilte mit ihm, deshalb teilte auch er mit niemandem.
Bald entdeckte er jedoch, daß das bei den Kindern der einfachen Leute anders war. Sie gaben sich geduldig mit ihm ab, weil er feiner war als sie. Ein großes, kräftiges Mädchen, das über die ganze Schar herrschte, nahm sich seiner an. Er konnte sich nicht satt an ihr sehen: sie hatte rabenschwarzes, wildgekraustes Haar, das nie anders als mit den Fingern gekämmt wurde. Dazu tiefblaue Augen und eine niedrige Stirn. Das ganze Gesicht sprühte vor Leben und Tatkraft. Sie war ständig in Bewegung und immer beschäftigt. Im Sommer barfuß, mit bloßen Armen und braungebrannt, im Winter so angezogen wie andere im Sommer. Ihr Vater war Lotse und Fischer. Sie lief von Haus zu Haus und verkaufte seine Fische. Wenn er fischte, hielt sie sein Boot gegen Sturm und Strom, und wenn er lotste, ging sie allein fischen. Jeder, der sie sah, mußte sich umdrehen und sie noch einmal ansehen, denn sie war die Selbständigkeit in Person. Sie hieß Gunlaug, wurde aber nie anders als das Fischermädchen genannt, ein Titel, den sie wie einen ihr zukommenden Rang entgegennahm. Beim Spielen half sie stets den Schwächeren. Sie war von dem Drang besessen, sich anderer anzunehmen, und nun nahm sie sich dieses feinen Jungen an.
In ihrem Boot durfte er Flöte spielen, die zu Hause in Acht und Bann getan worden war, weil man meinte, sie lenke ihn nur von den Schularbeiten ab. Sie ruderte ihn auf den Fjord, sie nahm ihn mit, wenn sie zum Fischen weiter hinausfuhr, bald war er auch bei den Nachtfahrten dabei. Dazu ruderten sie bei Sonnenuntergang in die helle Sommerstille hinein. Er spielte Flöte oder hörte zu, wenn sie ihm all das erzählte, was sie wußte und wovon sie die Seeleute hatte reden hören: von Klabautermännern, Seegespenstern, Schiffbrüchigen, fremden Ländern und schwarzen Völkerstämmen. Und wie sie ihr Wissen mit ihm teilte, teilte sie auch ihr Essen mit ihm, und er nahm alles entgegen, ohne etwas dafür zu geben, denn er brachte weder etwas zu essen von zu Hause mit noch Nahrung für die Phantasie aus der Schule. Sie ruderten, bis die Sonne hinter den schneebedeckten Gipfeln versank, gingen dann bei einer kleinen Insel an Land und machten ein Feuer, das heißt: sie sammelte Reisig, er saß dabei und sah zu. Er wurde in eine der Wetterjacken ihres Vaters und in eine Decke gehüllt, die sie für ihn mitgebracht hatte. Sie versorgte das Feuer, und er schlief ein. Sie hielt sich wach, indem sie Bruchstücke von Liedern und Chorälen sang. Solange er nicht eingeschlafen war, sang sie mit lauter, klarer Stimme, danach sang sie leise. Wenn die Sonne auf der anderen Seite wieder aufging und als Vorboten ein gelbkaltes Leuchten über die Gipfel schob, weckte sie ihn. Der Wald lag schwarz da, die Wiese war noch dunkel, doch begann sie sich schon bald braunrot zu färben und zu blinken, bis plötzlich der Gebirgskamm erglühte und alle Farben angeschäumt kamen. Dann zogen sie das Boot wieder ins Wasser, es schnitt einen Streifen in die schwarze Morgenbrise, und bald darauf lagen sie gemeinsam mit den anderen Fischern auf dem Fangplatz.
Als es Winter wurde und die Fahrten aufhörten, zog es ihn zu ihr nach Hause. Er kam immer wieder und sah ihr bei der Arbeit zu. Beide redeten wenig. Es war, als säßen sie nur beieinander, um auf den Sommer zu warten. Als er dann kam, wurde ihm leider auch diese neue Aussicht auf Leben genommen. Gunlaugs Vater starb, und sie verließ die Stadt, und der Junge wurde auf Anraten des Lehrers ins Geschäft gesteckt. Dort stand er nun gemeinsam mit der Mutter, denn der Vater, der mit der Zeit die Farbe all der Graupen, die er abwog, angenommen hatte, mußte im Hinterzimmer des Ladens das Bett hüten. Von dortaus wollte er trotzdem alles verfolgen, wollte vor allem hören, was jeder von ihnen verkauft hatte, tat, als verstünde er nicht, bis er sie so nahe bei sich hatte, daß er sie kneifen konnte. Und als der Docht in diesem Lämpchen völlig eingetrocknet war, erlosch es eines Nachts. Die Frau weinte, ohne eigentlich recht zu wissen, weshalb, der Sohn aber konnte sich keine Tränen abringen. Da sie genug Geld hatten, um davon leben zu können, gaben sie das Geschäft auf, merzten jede Erinnerung aus und verwandelten den Laden in ein Wohnzimmer. Dort setzte sich die Mutter ans Fenster und strickte Strümpfe. Pedro setzte sich in das Zimmer auf der anderen Seite des Hausflurs und spielte Flöte. Sobald es jedoch Sommer wurde, kaufte er sich ein kleines, leichtes Segelboot, fuhr damit zur Insel hinüber und legte dort an, wo Gunlaug einst angelegt hatte.
Und wie er dort eines Tages so im Heidekraut lag, sah er ein anderes Boot auf die Insel zuhalten, neben dem seinen anlegen – und Gunlaug stieg aus. Sie hatte sich kaum verändert, war nur völlig erwachsen und größer als die meisten Frauen. In dem Augenblick aber, da sie ihn erblickte, wich sie ganz langsam zurück. Ihr war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß auch er inzwischen erwachsen war.
Dieses blasse, magere Gesicht, das kannte sie nicht, das war nicht mehr kränklich und fein, das war schlaff. Doch als er sie ansah, trat ein stilles Leuchten aus früheren Träumen in sein Auge. Sie ging wieder vorwärts, und mit jedem Schritt, den sie ihm näher kam, fiel gleichsam ein Jahr von ihm ab, und als sie vor ihm stand, war er aufgesprungen und lachte wie ein Kind und redete wie ein Kind. Hinter dem gealterten Gesicht verbarg sich das eines Kindes: Wohl war er älter geworden, doch nicht erwachsen.
Aber gerade dieses Kind hatte sie gesucht, und nun, da sie es wiedergefunden hatte, wußte sie nicht, was sie tun sollte. Sie lachte und wurde rot. Unwillkürlich verspürte er so etwas wie Macht in sich. Und zum erstenmal in seinem Leben wurde er schön. Es dauerte vielleicht nur einen Augenblick, doch in diesem Augenblick war sie erobert.
Sie war eine jener Naturen, die nur lieben können, was schwach ist, worüber sie schützend die Hand gehalten haben. Zwei Tage hatte sie in der Stadt bleiben wollen, sie blieb zwei Monate. In diesen beiden Monaten wuchs er mehr als in all seinen übrigen Jugendjahren. Er erhob sich so weit aus Traum und Trägheit, daß er Pläne schmiedete. Er wollte fort, wollte sich im Flötenspiel ausbilden lassen! Doch als er eines Tages wieder davon sprach, wurde sie blaß und sagte: „Ja, aber dann müssen wir erst heiraten!“
Er sah sie an, und sie sah ihn an, beide wurden sie feuerrot, und er erwiderte: „Was würden die Leute sagen?“
Gunlaug war nie der Gedanke gekommen, daß er etwas anderes wollen könnte als sie, weil sie nie etwas anderes hätte wollen können als er. Nun aber sah sie bis auf den Grund seiner Seele: Er hatte keinen einzigen Augenblick daran gedacht, etwas anderes mit ihr zu teilen als das, was sie gab. In dieser einen Minute begriff sie, daß das von Anfang an so gewesen war. Sie aber hatte zuerst