Ungeduld des Herzens. Stefan Zweig
Читать онлайн книгу.Man kennt vom Sehen schon alle Frauen auf dem Korso und von jeder den Sommerhut und den Winterhut und das noble und das gewöhnliche Kleid, es bleibt immer dasselbe. Und den Hund kennt man und das Dienstmädchen und die Kinder vom Anschauen und Wegschauen. Man kennt alle Künste der dicken böhmischen Köchin im Kasino, und der Gaumen wird einem allmählich flau beim Anblick der ewig gleichen Speisekarte im Gasthaus. Man kennt jeden Namen, jedes Schild, jedes Plakat in jeder Gasse auswendig und jedes Geschäft in jedem Haus und in jedem Geschäft jede Auslage. Man weiß schon beinahe so exakt wie der Oberkellner Eugen, um welche Stunde der Herr Bezirksrichter im Kaffeehaus erscheint und daß er an der Fensterecke links Platz nehmen wird und Schlag vier Uhr dreißig eine Melange bestellen, während der Herr Notar wiederum genau zehn Minuten später kommt, vier Uhr vierzig, und dafür – holde Abwechslung – wegen seines schwachen Magens ein Glas Tee mit Zitrone trinkt und zur ewig gleichen Virginia dieselben Witze erzählt. Ach, man kennt alle Gesichter, alle Uniformen, alle Pferde, alle Kutscher, alle Bettler im ganzen Umkreis, man kennt sich selber zum Überdruß. Warum nicht einmal aus der Tretmühle ausbrechen? Und dann, dieses hübsche Mädel, diese rehbraunen Augen! Ich erkläre also meinem Gönner mit gespielter Gleichgültigkeit (nur sich nicht zu happig zeigen vor dem eitlen Pillendreher!), gewiß, es würde mir ein Vergnügen sein, die Bekanntschaft der Familie Kekesfalva zu machen.
Tatsächlich – siehe da, der wackere Apotheker hat nicht geflunkert! – schon zwei Tage später bringt er mir, ganz aufgeplustert vor Stolz, mit gönnerischer Gebärde eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die mein Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese Einladungskarte besagt, daß Herr Lajos von Kekesfalva Herrn Leutnant Anton Hofmiller für Mittwoch nächster Woche acht Uhr abends zum Diner bitte. Gott sei Dank, auch unsereiner ist nicht auf der Brennsuppe hergeschwommen und weiß, wie man sich in solchem Falle benimmt. Gleich Sonntag vormittag haue ich mich in meine beste Kluft, weiße Handschuhe und Lackschuhe, unerbittlich rasiert, einen Tropfen Eeau de Cologne in den Schnurrbart, und fahre hinaus, Antrittsbesuch zu machen. Der Diener – alt, diskret, gute Livree – nimmt meine Karte und murmelt entschuldigend, die Herrschaften würden auf das höchste bedauern, Herrn Leutnant versäumt zu haben, aber sie seien in der Kirche. Um so besser, denke ich mir, Antrittsvisiten sind immer das Grausigste im Dienst und außer Dienst. Jedenfalls, ich habe meine Pflicht getan. Mittwoch abend gehst du hin und hoffentlich wird’s nett. Erledigt, denke ich, Angelegenheit Kekesfalva bis Mittwoch. Aber redlich erfreut finde ich zwei Tage später, Dienstag also, eine eingebogene Visitenkarte von Herrn von Kekesfalva in meiner Bude abgegeben. Tadellos, denke ich mir, die Leute haben Manieren. Gleich zwei Tage nach der Antrittsvisite mir, dem kleinen Offizier, einen Gegenbesuch – mehr Höflichkeit und Respekt kann ein General sich nicht wünschen. Und mit einem wirklich guten Vorgefühl freue ich mich jetzt auf den Mittwochabend.
Aber gleich anfangs fährt ein Schabernack dazwischen – man sollte eigentlich abergläubisch sein und auf kleine Zeichen mehr achten. Mittwoch halb acht Uhr abends, ich bin schon fix und fertig, die beste Uniform, neue Handschuhe, Lackschuhe, die Hose scharf wie eine Rasierschneide gebügelt, und mein Bursche legt mir grade noch die Falten des Mantels zurecht und revidiert, ob alles klappt (ich brauche immer meinen Burschen dazu, denn ich habe nur einen kleinen Handspiegel in meiner schlecht beleuchteten Bude), da poltert’s an die Tür: eine Ordonnanz. Der Offizier vom Dienst, mein Freund, der Rittmeister Graf Steinhübel, läßt mich bitten, ich solle zu ihm hinüber in den Mannschaftsraum. Zwei Ulanen, sternhagelbesoffen wahrscheinlich, haben miteinander krawalliert, schließlich hat der eine den andern mit dem Karabiner über den Kopf geschlagen. Und nun liegt der Tolpatsch da, blutend, ohnmächtig und mit offenem Mund. Man weiß nicht, ob sein Schädel überhaupt noch ganz ist oder nicht. Der Regimentsarzt aber ist auf Urlaub nach Wien abgeschwommen, der Oberst nicht zu finden; so hat in seiner Not der gute Steinhübel, verflucht, gerade mich herangetrommelt, daß ich ihm beispringe, indes er sich um den Blutenden bemüht, und ich muß jetzt Protokoll aufnehmen und nach allen Seiten Ordonnanzen schicken, damit man im Kaffeehaus oder sonstwo rasch einen Zivilarzt auftreibt. Unter all dem wird es dreiviertel acht. Ich sehe schon, vor einer Viertel- oder einer halben Stunde kann ich keinesfalls loskommen. Verdammt, justament heute muß eine solche Sauerei passieren, justament heute, wo ich eingeladen bin! Immer ungeduldiger sehe ich auf die Uhr; unmöglich pünktlich zurechtzukommen, wenn ich hier auch nur noch fünf Minuten herummurksen muß. Aber Dienst, so ist’s uns ja bis in die Knochen gebläut, geht über jede private Verpflichtung. Ich darf nicht auskneifen, so tue ich das einzig Mögliche in dieser vertrackten Situation – das heißt, ich schicke meinen Burschen mit einem Fiaker (vier Kronen kostet mich der Spaß) zu den Kekesfalva hinaus, ich ließe um Entschuldigung bitten, falls ich mich verspäten sollte, aber ein unvermuteter dienstlicher Vorfall, und so weiter und so weiter. Glücklicherweise dauert der Rummel in der Kaserne nicht allzu lange, denn der Oberst erscheint in Person mit einem rasch aufgefundenen Arzt, und nun darf ich mich unauffällig drücken.
Aber neues Pech: gerade heute steht am Rathausplatz kein Fiaker, ich muß warten, bis man ein achthufiges Gefährt herantelephoniert. So wird’s unvermeidlich, daß, wie ich schließlich bei Kekesfalvas in der großen Hall lande, der lange Zeiger an der Wanduhr schon vertikal herunterhängt, genau halb neun statt acht Uhr, und ich sehe, die Mäntel in der Garderobe bauschen sich bereits dick übereinander. Auch an dem etwas befangenen Gesicht des Dieners merke ich, daß ich reichlich verspätet anrücke – unangenehm, unangenehm, so, etwas gerade bei einem ersten Besuch!
Immerhin, der Diener – diesmal weiße Handschuhe, Frack, steifes Hemd und Gesicht – beruhigt mich, mein Bursche habe vor einer halben Stunde meine Botschaft überbracht, und führt mich in den Salon, vierfenstrig, rotseiden ausgespannt, glühend mit kristallenen Leuchtern, fabelhaft elegant, ich habe nie etwas Nobleres gesehen. Aber leider erweist er sich zu meiner Beschämung als völlig verlassen, und von nebenan höre ich deutlich munteres Tellerklirren – ärgerlich, ärgerlich, ich dachte mir’s gleich, sie sitzen schon bei Tisch!
Nun, ich raffe mich zusammen, und sobald der Diener vor mir die Schiebetür auftut, trete ich bis an die Schwelle des Speisezimmers, klappe die Hacken scharf zusammen und verbeuge mich. Alles blickt auf, zwanzig, vierzig Augen, lauter fremde Augen, mustern den Spätling, der sich nicht sehr selbstbewußt vom Türstock rahmen läßt. Sofort erhebt sich ein älterer Herr, der Hausherr zweifellos, tritt, die Serviette rasch abstreifend, mir entgegen und bietet mir einladend die Hand. Gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt habe, gar nicht wie ein Landedelmann magyarisch-schnurrbärtig, vollbäckig, feist und rötlich vom guten Wein, sieht dieser Herr von Kekesfalva aus. Hinter goldener Brille schwimmen ein bißchen müde Augen über grauen Tränensäcken, die Schultern scheinen etwas vorgeneigt, die Stimme klingt flüstrig und ein wenig vom Hüsteln gehemmt: für einen Gelehrten könnte man ihn eher halten, mit diesem schmalen, zarten Gesicht, das in einem dünnen weißen Spitzbärtchen endet. Ungemein beschwichtigend wirkt die besondere Artigkeit des alten Herrn auf meine Unsicherheit: nein, nein, an ihm sei es, sich zu entschuldigen, fällt er mir gleich ins Wort. Er wisse genau, was im Dienst alles passieren könne, und es sei eine besondere Freundlichkeit meinerseits gewesen, ihn eigens zu verständigen; nur weil man meines Eintreffens nicht sicher gewesen sei, hätte man schon mit dem Diner begonnen. Aber nun solle ich unverweilt Platz nehmend Er werde mich dann später mit all den Herrschaften einzeln bekannt machen. Nur hier – dabei geleitet er mich an den Tisch – seine Tochter. Ein halbwüchsiges Mädchen, zart, blaß, fragil wie er selbst, blickt aus einem Gespräch auf, zwei graue Augen streifen mich schüchtern. Aber ich sehe bloß wie im Flug das schmale, nervöse Gesicht, verbeuge mich erst vor ihr, dann korporativ rechts und links gegen die andern, die offenbar froh sind, Gabel und Messer nicht weglegen zu müssen, um durch umständliche Vorstellungszeremonien gestört zu werden.
Die ersten zwei, drei Minuten fühle ich mich noch herzlich unbehaglich. Niemand vom Regiment ist da, kein Kamerad, kein Bekannter, und nicht einmal jemand von den Honoratioren des Städtchens – ausschließlich fremde, stockfremde Menschen. Hauptsächlich scheinen es Gutsbesitzer aus der Umgebung zu sein mit ihren Frauen und Töchtern oder Staatsbeamte. Aber nur Zivil, Zivil, keine andere Uniform als die meine! Mein Gott, wie soll ich ungeschickter, scheuer Mensch mit diesen unbekannten Leuten Konversation machen? Glücklicherweise hatte man mich gut placiert. Neben mir sitzt das braune, übermütige Wesen, die hübsche Nichte, die damals meinen bewundernden Aufblick in der Konditorei doch bemerkt zu haben scheint, denn sie lächelt mir freundlich wie einem alten