Der behauste Mensch. Kurt E. Becker

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Der behauste Mensch - Kurt E. Becker


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Erbauer, galt Ihnen als Genie. Warum? Sie haben einen fiktiven Dialog mit dem Baumeister zu Papier gebracht. Lassen Sie uns daran teilhaben.

      Goethe: Wie oft hat die Abenddämmerung mein durch forschendes Schauen ermattetes Auge mit freundlicher Ruhe geletzt, wenn durch sie die unzähligen Teile zu ganzen Massen schmolzen und nun diese, einfach und groß, vor meiner Seele standen und meine Kraft sich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genießen und zu erkennen. Da offenbarte sich mir in leisen Ahnungen der Genius des großen Werkmeisters. Was staunst du?, lispelt er mir entgegen. Alle diese Massen waren notwendig, und siehst du sie nicht an allen älteren Kirchen meiner Stadt? Nur ihre willkürlichen Größen hab ich zum stimmenden Verhältnis erhoben. Wie über dem Haupteingang, der zwei kleinere zu Seiten beherrscht, sich der weite Kreis des Fensters öffnet, der dem Schiffe der Kirche antwortet und sonst nur Tageloch war, wie hoch drüber der Glockenplatz die kleineren Fenster forderte. Das all war notwendig, und ich bildete es schön … Und so schied er von mir … Deinem Unterricht dank ich’s, Genius, dass mir’s nicht mehr schwindelt an deinen Tiefen, dass in meine Seele ein Tropfen sich senkt der Wonneruh des Geistes, der auf solch eine Schöpfung herabschauen und gottgleich sprechen kann: Es ist gut!

      Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

      Johann Wolfgang von Goethe, geboren am 28. August 1749 in Frankfurt am Main, gestorben am 22. März 1832 in Weimar, Politiker, Minister, Naturforscher, Theaterintendant, gilt als Deutschlands bedeutendster Dichter.

      Architektur: Ausdruck der Seele

      Im Gespräch mit Gerhart Hauptmann

      Herr Hauptmann, Ihr Geleitwort zu Kurt Hielschers »Deutschland. Landschaft und Baukunst« enthält Elementares zu Architektur und Behaustsein des Menschen. Ein Freund amerikanischer Hochhauskonstruktionen waren Sie grundsätzlich nicht.

      Hauptmann: Wenn die Eisenkonstruktion des amerikanischen Häuserturms den letzten romanischen, den letzten gotischen, den letzten der alten Renaissancebauten, profan oder sakral, ersetzt haben wird, dann freilich ist alles dahin, was wir heute bewegten Gemütes als Deutschland bezeichnen. Es ist dahin, ohne die leiseste Möglichkeit einer Wiedererneuerung.

      Hielschers Fotos evozieren bei Ihnen eine fast schon nostalgisch melancholische Interpretation des Behaustseins.

      Hauptmann: Man betrachte also mit Aufmerksamkeit jene Baugebilde, … betrachte sie im Ganzen und Einzelnen, in ihrer nützlichen Zweckhaftigkeit sowohl als in dem, worin sie nur Schönheit zum Zwecke haben. Man betrachte ihre äußere Form, mit der sie Wind und Wetter trotzen, und ihre innere, umfriedete Form: Überall wird man finden, dass sie Ausdruck des menschlichen Wesens, der menschlichen Seele, des menschlichen Schicksals sind. Da aber Ausdruck und Sprache ein und dasselbe ist, wird man sagen, dass diese Gebilde sprechen, dass sie menschliches Wesen, menschliche Seele, menschliches Schicksal auf eine nahezu universelle Weise aussprechen.

      Was erfahren wir über den Menschen beim Blick auf diese Bauten?

      Hauptmann: Medium des Entstehens dieser Gebilde ist die Kunst. Und auch darum sprechen sie, weil Kunst unter anderem durch und durch Sprache ist. Was aber sprechen sie über das menschliche Wesen, die menschliche Seele, das menschliche Schicksal aus? Sie sprechen aus, wie sich das menschliche Wesen zu gestalten sucht, wie sich die menschliche Seele gegen das Schicksal abzugrenzen, zu sichern und in Sicherheit zu entfalten sucht. Sie sprechen aus, wieweit das Schicksal solche Bestrebungen zuließ oder hinderte.

      Konkret heißt das was hinsichtlich des Menschen als behaustem Wesen?

      Hauptmann: Es handelt sich hier um die Sprache des menschlichen Kollektivwesens, seiner Kollektivseele und des menschlichen Schicksals überhaupt. Das Individuelle ist dabei nirgends rein herauszulösen, wenn man auch sagen kann, dass es im Innern eines Zimmers mehr als im ganzen Hause, im ganzen Hause mehr als in einer Stadt zum Ausdruck kommt.

      Fallen Ihnen dazu konkrete Beispiele ein?

      Hauptmann: Man sehe daraufhin das Lutherstübchen auf der Wartburg an oder das Eseltreiberstübchen oder auch Goethes Schlafzimmer. Man könnte weiter fortfahren und feststellen, es komme im Innenraum überhaupt mehr zum Ausdruck als im Außenraum, weil dieser im Wesentlichen Schutz und Hülle ist und das Intimste, Eigenste und Zarteste der Seele es ist, was geschützt und umhüllt werden muss.

      Der Architekt als Psychologe?

      Hauptmann: Über das Psychische der Architektur wird vielleicht einmal mehr als heute gesprochen werden. Man würde dabei die Beantwortung zweier Grundfragen versuchen müssen: inwieweit Architektur Ausdruck der Seele ist und wieweit sie rückwirkend Seelen beeindruckt und bildet.

      Ich danke für das Gespräch.

      Gerhart Hauptmann, geboren am 15. November 1862 im schlesischen Kurort Obersalzbrunn, gestorben am 6. Juni 1946 in Agnetendorf (Agnieszków) in Schlesien, war ein deutscher Dramatiker, Schriftsteller, Dichter und Shakespeare-Übersetzer. 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

      Die Baukunst –

       das große Buch der Menschheit

      Im Gespräch mit Victor Hugo

      Ihrer Überzeugung nach wurde das große Buch der Menschheitsgeschichte in Stein gemeißelt bzw. mit Steinen gemauert, Monsieur Hugo?

      Hugo: In Wahrheit bildet, vom Ursprunge der Dinge an bis einschließlich zum 15. Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung, die Baukunst das große Buch der Menschheit, das Hauptausdrucksmittel des Menschen in seinen verschiedenen Entwicklungszuständen, sei es nun als Macht oder sei es als Intelligenz … So ist während der sechs ersten Jahrtausende der Welt, von der urältesten Pagode Hindustans an bis zum Kölner Dom, die Baukunst die große Schreibkunst des menschlichen Geschlechtes gewesen. Und das ist dermaßen in der Wahrheit begründet, dass nicht nur jedes religiöse Sinnbild, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem ungeheuern Buche seine Seite und sein Denkmal besitzt.

      Mit einer erstaunlichen Entwicklungsgeschichte …

      Hugo: Jede Zivilisation beginnt mit der Priesterherrschaft und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz freiheitlicher Entwicklung, welches an die Stelle der Einheit tritt, ist in der Baukunst niedergeschrieben. Denn wenn wir auf diesen Punkt Gewicht legen, so muss man nicht glauben, dass die Mauerkunst vermögend sei, nur den Tempel zu bauen, nur den Mythus und die kirchliche Symbolik darzustellen, nur die geheimnisvollen Tafeln des Gesetzes auf seine steinernen Seiten in Hieroglyphenschrift einzutragen. Wenn es so wäre, wie ja in jedem menschlichen Gesellschaftszustande ein Augenblick eintritt, wo das geheiligte Sinnbild sich abnutzt und vor dem freien Gedanken verschwindet, wo der Mensch sich dem Priester entzieht, wo das Auswachsen der philosophischen Wissenschaften und Systeme die Grenzlinie der Religion durchbricht, so würde die Baukunst diesen neuen Zustand des menschlichen Geistes nicht wiedergeben können: Ihre auf der Vorderseite beschriebenen Blätter würden auf der Rückseite leer bleiben, ihr Werk würde verstümmelt und ihr Buch unvollständig sein. Das geschah nun freilich nicht.

      Sondern? Die Baukunst – Kulminationspunkt aller Kräfte des Menschen?

      Hugo: Alle physischen und alle geistigen Kräfte der Gesellschaft liefen in demselben Punkte, der Baukunst, zusammen. In dieser Weise und unter dem Vorwand, der Gottheit Kirchen zu bauen, entfaltete sich die Kunst in großartigen Verhältnissen …

      Bis zur Erfindung des Buchdrucks …

      Hugo: Bis zu Gutenbergs Auftreten war die Baukunst die hauptsächliche schriftliche Kunst, die Allgemeinschrift. Dieses granitene Buch wird im Orient begonnen, vom griechischen und römischen Altertum fortgesetzt, und das Mittelalter schreibt dessen letzte Seite. Übrigens zeigt sich jene Erscheinung einer Volksbaukunst, welche … die Baukunst einer Gesellschaftskaste verdrängt, bei ganz gleichartiger Richtung in der menschlichen Intelligenz, auch in andern großen Epochen der Geschichte. Also: Um ein Gesetz, welches verlangen könnte, in zahlreichen Bänden aufgedeckt zu werden, hier nur summarisch darzustellen, so folgte im Innern des Morgenlandes, an der Wiege der Urzeiten, auf die Baukunst der Hindus diejenige der Phönizier, als die reiche Mutter der arabischen


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