Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters
Читать онлайн книгу.Südlich von Westminster Bridge Zur Mittagsstunde
Drei Stunden später hatte die Nachricht von der Toten in der Themse die Runde gemacht. Die Polizei hatte Pier 14 abgesperrt, an dessen Ende die Princess vertäut lag. Inzwischen war eine große Menschenmenge zusammengekommen, die neugierig Richtung Fluss starrte. Eine Hansom-Kutsche hatte am Ende der Straße gehalten und ein Mann war ausgestiegen. Er war hochgewachsen, breitschultrig, mit schwarzem Haar, welches er seitlich gescheitelt trug. Die energisch zusammen gepressten Lippen beschattete ein Oberlippenbart. Er sah zum Himmel. Nieselregen flirrte durch die Luft und tauchte die Silhouette Londons in einen trüben Schleier. Den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die gaffend die Köpfe in die Höhe reckten oder auf Fässern, Karren und Mauern hockten, um besser sehen zu können.
„Sie können hier nicht durch“, sagte einer der Bobbys, die den Durchgang versperrten. Der Custodian-Helm, der die Nummer seines Reviers auf einer Plakette trug, drückte ihm auf die Augenbrauen. Sein blauer Mantel glänzte vor Nässe.
„Inspector Robert Edwards“, sagte der Mann und fügte bedeutungsschwer hinzu: „Scotland Yard.“ Er zeigte seinen Ausweis.
„Verzeihung, Sir. Ich wusste ja nicht …“
„Schon gut, Constable. Machen Sie weiter.“ Edwards betrat den Pier und ging zum Boot.
An Bord konnte er zwei Beamte ausmachen. Einer von ihnen wandte ihm zwar den Rücken zu, doch seine affektierten Gesten, mit denen er seine Monologe gerne unterstrich, waren unverkennbar: Inspector Kippwell von der L-Division. Auf seinem Kopf thronte ein schwarzer Bowler, der ihm das Aussehen einer Kanonenkugel verlieh.
Edwards konnte diesen blasierten Affen nicht ausstehen, der zwei Jahre lang sein Ausbilder gewesen war. Schon fragte er sich, warum ihn Chief Inspector DeFries überhaupt herbestellt hatte.
„Guten Tag, Gentlemen“, sagte er und zwang sich, freundlich zu bleiben.
Kippwell schien wie vom Donner gerührt. Einen Moment lang suchte er nach Worten, dann zuckten seine Mundwinkel. „Edwards. Was wollen Sie denn hier?“
„Wollte mir mal die Füße vertreten und sehen, was Sie so treiben.“
„Ich brauche Sie nicht. Gehen Sie.“
Edwards grinste herausfordernd. „Ist wirklich zu dumm, was, alter Knabe?“
„Was zum Teufel meinen Sie?“
„Nun, dass die Leute immer sterben, wenn Sie gerade Dienst haben. Wo Sie doch bequem vor dem Ofen sitzen könnten, um ihre Pfeife zu rauchen.“
Kippwell erstarrte. „Gibt es nicht irgendwo eine Prügelei, die Ihre Anwesenheit erfordert?“
„Nein, momentan nicht. Es sei denn, Sie wollen eine mit mir anfangen.“
„Verschwinden Sie. Scotland Yard ist hier überflüssig.“
„Das sieht der Chief Inspector wohl anders.“
„Ich bin der leitende Beamte“, schnappte Kippwell, missgünstig sein Revier bewachend.
„Sie können ihn ja selber fragen, alter Knabe. Er will herkommen. Solange werde ich Ihrem messerscharfen Verstand bei der Arbeit zusehen.“
Kippwell pustete eine Rauchwolke in die Luft und glich dabei einem Drachen, der seinem nächsten Opfer giftigen Odem entgegen spie. Es bereitete Edwards eine diebische Freude zu sehen, wie er seinen ehemaligen Vorgesetzten aus der Fassung brachte. Dann erstarrte er, als er einen Blick auf das Gesicht der Toten erhaschen konnte. Sofort schob er Kippwell beiseite, um neben ihr niederzuknien.
„Kennen Sie die Frau?“, fragte der Sergeant, der bis dahin schweigend daneben gestanden hatte.
„Würde mich nicht wundern, wenn er so eine abgetakelte Schabracke kennen würde.“
„Halten Sie den Mund, Kippwell“, schnaubte Edwards. Für ihn war der Blick in das Gesicht der Toten wie ein Blick in die Vergangenheit. Damals, als er noch als Constable Dienst in Whitechapel getan hatte. Er schloss ihr die Augen. „Das ist Madame Yin.“ Ein seltsames Gefühl der Verbundenheit überkam ihn.
„Und wer soll das sein?“, knurrte Kippwell.
„Sie war eine der wichtigsten Frauen in Lambeth und Whitechapel. Opium, Huren, Glücksspiel. Sie hatte überall ihre Finger drin. Sollten Sie Ihr Klientel nicht etwas besser kennen, Kippwell?“
„Ersparen Sie mir Ihre verfluchte Klugscheißerei und hauen Sie endlich ab. Sie stören mich.“
„Wobei? Beim Rauchen?“
„Jetzt hab ich aber genug von Ihnen. Runter vom Schiff.“
Edwards sah auf Kippwells geballte Fäuste. „Versuchen Sie es doch. Den ersten Schlag gestatte ich Ihnen.“
„Gentlemen, sollten wir uns angesicht der Toten nicht ein wenig beherrschen?“ Die Worte des Sergeant fielen wie Blei auf Deck.
Kippwell nagte an seiner Pfeife wie ein Hund an seinem Knochen.
„Ihr Sergeant hat recht, aber an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“ Edwards hatte Mühe sich zu beherrschen. Er sah wieder zu der Toten. „Armes Ding.“
„Armes Ding?“, höhnte Kippwell. „Dass ich nicht lache. Wie sie selbst gerade sagten, war sie ja wohl eine Kriminelle. Dass sie tot ist, bedeutet nur eine weniger, um die wir uns Sorgen machen müssen.“
„So sehen Sie das also? Und was ist mit dem Schwein, das sie umgebracht hat? Der hat der Stadt dann wohl einen Gefallen getan?“
Zwei Kutschen hielten am Pier und zogen die Aufmerksamkeit aller auf sich, ehe der Streit erneut aufflammen konnte.
Doktor Noah Aeglewood, der Polizeiarzt des Yard, und Chief Inspector Hendrik DeFries stiegen aus.
DeFries war wie immer tadellos gekleidet. In den schwarzen Hosen, mit Mantel, Gehrock, Weste und Zylinder schien er eher für die Oper oder den Gentlemen's Club gekleidet als für einen Tatort. Sein langes Gesicht mit der spitzen Nase war, ebenfalls wie immer, ausdruckslos.
Seite an Seite kamen die beiden Männer auf die Princess zu.
Kippwells Miene verriet tiefe Verunsicherung, als sich der Doktor unverzüglich mit der Leiche beschäftigte und ihm nur knapp zunickte. DeFries bedachte ihn mit einem adlergleichen Blick. „Inspector Kippwell. Kann ich Sie einen Moment sprechen? Unter vier Augen.“
„Ja … natürlich, Sir.“
Sie entfernten sich ein Stück, bis DeFries stehenblieb und die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
„Ich möchte es kurz machen. Scotland Yard übernimmt von jetzt an die Ermittlungen.“
„Was? Das können Sie doch nicht machen!“ Das mopsige Gesicht lief puterrot an.
„Sie sind in dem einen Monat seit dem letzten Mord nicht ein Stück vorangekommen. Ihre Berichte sind absolut nicht befriedigend und jetzt gibt es ein zweites Opfer mit dem gleichen Stück Stoff im Mund. Aber deswegen entziehe ich Ihnen den Fall nicht.“ Er zog ein Heft aus billigem Papier aus der Manteltasche.
Das Titelbild zeigte einen riesenhaften Schatten, der über einer jungen Frau stand, die er mit langen Krallenhänden erwürgte. „Der Würger im Schatten von P.D. Wolkins“, las DeFries die Überschrift.
Kippwell blinzelte überrascht. „Woher haben Sie das?“
„Diesen Schund kann man bei jedem Zeitungshändler kaufen.“
„Damit habe ich nichts zu tun.“
„Ach nein? Und woher weiß der Kerl dann so viel über diesen Fall? Die Strangulation? Das Stück Stoff, die Haarlocke? Verdammt noch mal. Sie sind der leitende Beamte. Sollte